«Die humanitäre Lage ist schlecht, ja katastrophal»

In und rund um Syrien spielt sich eine der grössten humanitären Krisen weltweit ab. Die internationale Zusammenarbeit der Schweiz ist seit Ausbruch des Konflikts 2011 vor Ort aktiv, um Not zu lindern und Leben zu retten. Im Interview spricht Caroline Tissot, Regionalchefin IZA Mittlerer Osten, wie sich die Schweiz für den Schutz der syrischen Zivilbevölkerung, ihrer Lebensgrundlagen und für Bildung einsetzt.

09.01.2023
Blick auf das verschneite Lager für Binnenvertriebene in der Stadt Selkin im Nordwesten Syriens.

Sechs Millionen Menschen in Syrien sind Binnenvertriebene. Sie leben meistens in Lagern wie hier in der Stadt Selkin im Nordwesten des Landes. © OCHA/Ali Haj Suleiman

Am 9. Januar 2023 hat der UNO-Sicherheitsrat die grenzüberschreitende Hilfe für Syrien per Resolution bestätigt. Für diesen Entscheid hat sich die Schweiz in ihrer Rolle als Co-Federführerin für das humanitäre Syriendossier mit Brasilien im Rat eingesetzt. Nicht nur im Sicherheitsrat, sondern auch vor Ort engagiert sich die Schweiz. Es handelt sich um eine der grössten humanitären Aktionen in der Geschichte der Schweiz.

Portrait von Caroline Tissot.
Caroline Tissot, Regionalchefin IZA Mittlerer Osten © DEZA

Frau Tissot, wie schätzen Sie die aktuelle humanitäre Situation in Syrien ein?

Nach elf Jahren Konflikt in Syrien ist die humanitäre Lage im Land schlecht, ja katastrophal. Die UNO ermittelt jedes Jahr die humanitären Bedürfnisse, und seit 2020 steigt die Zahl der Menschen, die humanitäre Hilfe benötigen. Auch die Ernährungsunsicherheit ist grösser als je zuvor: 12,1 Millionen Menschen sind davon betroffen und die Zahl der mangelernährten Kinder nimmt zu. 

15,3 Millionen Menschen werden im Jahr 2023 humanitäre Hilfe benötigen, so viel wie noch nie.
Caroline Tissot, Regionalchefin IZA Mittlerer Osten

Die UNO schätzt, dass 15,3 Millionen Menschen im Jahr 2023 humanitäre Hilfe benötigen werden – dies ist die höchste Zahl seit Beginn des Konflikts. Die steigenden Preise für Lebensmittel, Treibstoff, grundlegende Güter und Dienstleistungen zwingen immer mehr Haushalte dazu, sich zu verschulden, um ihre Grundbedürfnisse zu decken. Viele Syrerinnen und Syrer leben also auf Kredit. Darüber hinaus ist Syrien derzeit mit einer Cholera-Epidemie konfrontiert: Seit August letzten Jahres wurden mehr als 60 000 Verdachtsfälle gemeldet. Die Ursachen für diese Epidemie sind vielfältig, der Zusammenbruch der öffentlichen Infrastruktur ist ein Teil davon. Aus diesem Grund hat das IKRK seine Initiative Too big to fail ins Leben gerufen, die sich für die Aufrechterhaltung wichtiger öffentlicher Dienstleistungen, einschliesslich Wasser- und Sanitärversorgung, einsetzt. 

Kinder im Lager für Binnenvertriebene «Kafr Aruq» spielen in einer grossen Regenpfütze.
Das Lager «Kafr Aruq» nördlich von Idlib ist eines von über 1420 Lagern allein in Nordwest-Syrien. Rund 800'000 Menschen leben in dieser Region in Zelten, davon sind die Hälfte Kinder. © OCHA / Mohanad Zayat

Wie engagiert sich die Schweiz in der Syrienkrise?

Da der Konflikt Auswirkungen auf die gesamte Region hat, setzt sich die Schweiz mit einem regionalen Kooperationsprogramm für die von der Syrienkrise betroffenen Menschen ein. Dieses Programm umfasst neben Syrien auch Jordanien, den Libanon, den Irak und den Süden der Türkei. Ziel ist es, die Bedürfnisse der Menschen zu decken, die am meisten unter dieser Krise leiden, und sicherzustellen, dass ihre Rechte geachtet und ihre Stimmen gehört werden. 

Ziel ist es, die Bedürfnisse der Menschen zu decken, die am meisten unter dieser Krise leiden, und sicherzustellen, dass ihre Rechte geachtet und ihre Stimmen gehört werden.
Carolina Tissot, Regionalchefin IZA Mittlerer Osten

Es gibt sechs Millionen Binnenvertriebene in Syrien und fünf Millionen Flüchtlinge in der Region. Die meisten Betroffenen sind seit Jahren vertrieben. Die Schweiz führt deshalb Projekte durch, die auf langfristige Unterstützung ausgerichtet sind, resilienzorientierte Ansätze verfolgen und die lokalen Gemeinschaften und die Vertriebenen in alle Projektphasen einbeziehen. Die Schweiz hat seit 2011 mehr als 610 Millionen Franken für die betroffenen Menschen in der Region bereitgestellt – es handelt sich um die grösste humanitäre Aktion in der Geschichte der Schweiz. Anzumerken ist, dass sich das Engagement der Schweiz in einigen Ländern wie dem Libanon auch auf Personen erstreckt, die von der Krise im Inland betroffen sind.

Der Zugang zu den hilfsbedürftigen Menschen ist in Syrien nicht immer einfach. Wie gehen Sie vor, um ihnen zu helfen?

Syrien ist ein geteiltes Land, weshalb die Schweiz ihre humanitäre Hilfe nach humanitären Grundsätzen bedarfsorientiert und unabhängig vom Aufenthaltsort der Menschen ausrichtet. In der Praxis bedeutet dies, das wir mit Partnern zusammenarbeiten, die verschiedene Formen der Hilfe anbieten, insbesondere über Grenzen und Frontlinien hinweg. Beispielsweise wird ein Teil der humanitären Hilfe für den Nordwesten Syriens von der Türkei aus organisiert. Wir leisten Beiträge an mehrere UNO-Organisationen, die wir auch mit der Entsendung von Schweizer Expertinnen und Experten unterstützen. Wir unterstützen auch mehrere NGO.

Man muss sich in Erinnerung rufen, dass die humanitäre Hilfe der Schweiz Teil eines umfassenden Ansatzes in Syrien ist. Die Schweiz setzt sich auch für eine politische Lösung des Konflikts unter Einbeziehung der syrischen Zivilgesellschaft und der Förderung des humanitären Völkerrechts, der Menschenrechte und der Bekämpfung der Straflosigkeit ein.

Was sind die Schwerpunkte der Schweizer Hilfe in Syrien?

Die Prioritäten des regionalen Kooperationsprogramms sind Bildung, Konfliktprävention und Friedensförderung, Wasser, Hygiene und Sanitärversorgung sowie Migrations- und Schutzfragen. In Syrien finanzieren wir auch Nothilfe für die Schwächsten. Ein weiterer Fokus liegt auf Early-Recovery-Projekten, die die Resilienz der Bevölkerung stärken und ihre Abhängigkeit von humanitärer Hilfe jetzt und in der Zukunft verringern sollen.

Und Bildung?

Es ist bekannt, wie wichtig Bildung für die Kinder selbst, für ihre Zukunft und den Schutz ihrer Rechte und ihrer Unversehrtheit, aber auch für die Gesellschaften ist. In Jordanien arbeitet die Schweiz mit Relief International und dem Norwegischen Flüchtlingsrat (NRC) zusammen, um Flüchtlingskindern den Schulbesuch zu ermöglichen und die wichtigsten Probleme in den Lagern und Aufnahmegemeinschaften zu lösen. Im Norden Syriens gehen 800 000 Kinder nicht zur Schule und 60 Prozent der rund 1400 Vertriebenenlager in der Region verfügen über keine Grundschule. Es handelt sich um eine akute Bildungs- und Kinderschutzkrise. 

Ein Mädchen zeichnet mit oranger Farbe einen Kreis auf ein Blatt Papier.
Die Schweiz engagiert sich in Syrien dafür, dass vertriebene Kinder Zugang zu Bildung erhalten – auch für Kinder mit Behinderungen wie hier in Idlib in Nordwest-Syrien. © OCHA/Abdul Aziz Qitaz

Gemeinsam mit der NGO People in Need (PIN) verbessern wir den Zugang zur und die Qualität der formalen und nicht-formalen Bildung im Norden Syriens. Für die Schweiz ist es zentral, dass der Unterricht unter guten und sicheren Bedingungen stattfindet; das Wohlergehen dieser Mädchen und Jungen liegt uns am Herzen. Zu diesem Zweck wurden Räumlichkeiten renoviert, die Sanitäranlagen instand gesetzt und 659 Lehrpersonen (317 Männer und 342 Frauen) ausgebildet. 

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