09.03.2019

Bern, 09.03.2019 - Rede von Bundesrat Ignazio Cassis - Es gilt das gesprochene Wort

Rednerin/Redner: Departementsvorsteher, Ignazio Cassis

Sehr verehrte Frau Parteipräsidentin, cara Marianne
Liebe Geburtstagsgesellschaft der Evangelischen Volkspartei
Chère famille PEV
Cara neonata comunità ticinese del PEV

Willkommen auf dem Gurten!

Den Berner Hausberg haben Sie also auserkoren, um Geburtstag zu feiern. Da kann ich nur sagen: Ich gönne Ihnen Ihr ganz spezielles Gurtenfestival. Sie feiern einen runden Geburtstag. Den Hundertsten Ihrer Evangelischen Volkspartei!

Auf Italienisch tönt der Name der Gefeierten fast noch schöner: «Partito Evangelico Svizzero»

Herzlichen Dank für die Einladung: Ich bin sehr gerne gekommen!

Ihr Festival ist selbstverständlich nicht so laut, wie das traditionelle, das alljährlich Tausende von meist jüngeren Leuten auf den Gurten lockt.
Sie gehören eher zu den Stilleren im Land.

Aber deswegen sind Sie längst nicht leise. Sie können durchaus Ihre Stimme erheben, wenn Sie etwas zu sagen haben. Deshalb trägt ihre Parte zur Meinungsvielfalt in unserem Lande bei. Mit Ihren Werten leisten Sie einen wertvollen Beitrag für unser stark christlich geprägtes Land.

Blenden wir 100 Jahre zurück. In der Geburtsstunde Ihrer Partei hatten noch längst nicht alle mitbekommen, dass sich da zwar eine kleine aber wichtige Stimme erhebt – auch nicht die stets gut dokumentierte «Neue Zürcher Zeitung»…

Die NZZ brach einen Tag vor den Eidgenössischen Wahlen vom 26. Oktober 1919 nämlich nicht gerade in Begeisterung aus, als sie redaktionell der neuen Partei ein paar Zeilen widmete. Ich zitiere aus der Ausgabe vom Samstag, 25.Oktober 1919:
«Eine typische Neuerscheinung, die durch den Proporz ins Leben gerufen wurde, ist die Evangelische Volkspartei. Sie tritt zum ersten Mal auf den Plan, umfasst die sogenannten Stillen im Lande, die sich bisher um Politik nicht gekümmert haben, nun aber plötzlich finden, dass auch sie Interessen in der obersten Bundesbehörde zu vertreten hätten».

Und abschliessend noch ein weiterer «Gingg» ans Bein: «Wie weit die Evangelische Partei reicht, weiss niemand. Organisiert ist sie nicht». Was nachweislich falsch war. Heute würde man sagen: «Fake News»!

Damals hatten offensichtlich einige noch nicht wirklich verdaut, dass der Nationalrat 1919 erstmals im Proporz gewählt werden konnte. Die Gründung der EVP und die Einführung des Proporzwahlrechts in der Schweiz sind denn auch untrennbar miteinander verbunden. Ohne Proporz hätte ihre Partei keine Chance gehabt.

Ich verweise deshalb einmal mehr auf die äusserst gelungene Ausstellung «100 Jahre Proporz» im Bundeshaus. Sie ist noch bis zum 20. Oktober dieses Jahres zu sehen – also bis zu den Wahlen.

Und gestatten Sie mir als Tessiner dazu noch einen kleinen Hinweis: Es war mein Heimatkanton, der als erster das Proporzwahlrecht in der Schweiz einführte. Schon zehn Jahre früher als der Bund.

Alles begann am 11. September 1890.

Ja, auch mein Kanton hat sein … September Eleven 

Im Rahmen des heftigen Konflikts zwischen Liberalen und Konservativen wurde der Staatsrat Luigi Rossi durch einen Revolverschuss in Bellinzona ermordet. Der Bundesrat beschloss eine Bundesintervention: Er schickte zwei Berner Infanteriebataillone, um die provisorische Regierung aufzulösen und vorübergehend selbst die Regierungsgewalt zu übernehmen. Daraufhin wurde das Proporzwahlrecht eingeführt. So einfach konnte man damals Probleme lösen …

Nun aber zurück zu Ihrer Partei.

Allen Unkenrufen zum Trotz hatte der Partito Evangelico Svizzero auf Anhieb Erfolg. Sie wissen es: Im Kanton Zürich errang die EVP bei den Nationalratswahlen vom 26. Oktober 1919 erstmals einen Nationalratssitz. Mit wenigen Ausnahmen blieb sie daraufhin stets mit zwei, drei Sitzen in der Grossen Kammer vertreten.

So ist es auch heute noch. Und das Unbehagen der NZZ wurde am Wahlabend 1919 nachvollziehbarer. Die FDP verlor wegen der Einführung des Proporzes 43 Sitze…. Die Parteienlandschaft veränderte sich mit dem neuen Wahlsystem massiv!

Liebe Geburtstagsgesellschaft.

Bei der Vorbereitung dieser Ansprache bin ich auf ein Dokument gestossen, das mich tief berührt hat. Es handelt sich um eine Eingabe einer Vorläuferorganisation der EVP an den «Hohen Bundesrat». Geschrieben unmittelbar vor der Gründung im November 1918 von der «Politischen Vereinigung christlicher Bürger, Bern». Erstunterzeichner war der Gründungspräsident Ihrer Partei, Arnold Muggli.

Die Eingabe zeugt von grösster Sorge um den Zusammenhalt des Landes. Mit bewegenden Worten wird der «Hohe Bundesrat» mitten in den politischen Wirren nach dem Landesstreik von 1918 eindringlich gebeten – Ich zitiere: «Der Bitterkeit und Unzufriedenheit im Volke durch äusserstes Entgegenkommen gegenüber den notleidenden Volksschichten die Spitze zu brechen».

Und weiter: Dieser Geist der Bitterkeit und Unzufriedenheit könne nicht mit Gewalt bekämpft werden: «Massnahmen, die den Schutz der Bajonette erfordern, fördern das Unglück und trennen die Bürger».

Die Eingabe schliesst mit Lukas, 19, Vers 40 in leicht abgewandelter Form: «Wenn die Kinder schweigen, schreien die Steine».
Da kann man als heutiger Magistrat nur sagen: Hut ab!

Mugglis Worte vor 100 Jahren gelten auch heute noch. Mit dieser politischen Grundhaltung können Sie immer wieder Erfolge feiern.
So stellte die Boulevardzeitung BLICK im März 2002 ganz erstaunt fest, dass eine gewisse Maja Ingold es fertiggebracht habe, die SVP aus dem Winterthurer Stadtrat zu bugsieren. Es war Ihre spätere Nationalrätin Maja Ingold und meine Kollegin in der Gesundheitskommission während 8 Jahre. Der damalige Präsident, Ruedi Aeschbacher, begründete den Erfolg im BLICK folgendermassen: «Es kommt uns zugute, dass zurzeit die moralischen Tugenden verludern». Es war die Zeit der Lohnexzesse…. Wobei ich damit natürlich nicht sagen will, dass Sie nur Erfolge erzielen, wenn Tugenden verludern.

Liebe Mitglieder und Gäste des Partito Evangelico Svizzero, Sie haben es vorhin vielleicht bemerkt: Die Zahl 19 verfolgt uns.

Wir wurden auf Lukas 19 aufmerksam gemacht.

Im 19. Jahrhunderts wurde das Proporzwahlrecht im Tessin – als ersten Kanton - eingeführt.

Im Jahre 1919 erfolgte die Gründung der EVP und Einführung des Proporzwahlrechts in der Schweiz.

Im 2019 wird die erste Tessiner Sektion der EVP gegründet.

Im Jahr 1919 wurde der Völkerbund – la Société des Nations – gegründet: Der erste Baustein des Multilateralismus.

Am 19. Januar 1919 predigte die erste Frau im Zürcher Neumünster, Elise Pfister.

Und 1519 landen wir beim Amtsantritt von Leutpriester Huldrych Zwingli in Zürich.

Ja, ich möchte gerne abschliessend auch noch ein paar Worte zu 500 Jahre Reformation sagen. Und nochmals Ja! Ich habe den Zwingli-Film gesehen. Ein ausgezeichneter Film!

Als Bundesrat versuche ich diese Zeitwende aus einer etwas übergeordneten Warte zu betrachten, gewissermassen aus einer ökumenischen Sicht. Ich bin überzeugt, dass es bei diesem tiefgreifenden geschichtlichen Wandel die Reformation u n d die Gegenreformation brauchte. Reformierte und Katholiken haben gemeinsam das Mittelalter verabschiedet.

Gewiss, die konfessionellen Spannungen hörten erst nach und nach auf. Es floss auch weiterhin Blut. Es war ein langer, steiniger Weg bis zur Gründung des modernen Bundestaates, den Protestanten und Katholiken letztlich gemeinsam geschaffen haben.

Die Zeit ist nach der Reformation auch in den eher katholischen, ländlichen Gebieten der Schweiz nicht stehen geblieben. Auch die katholische Kirche hat sich während der Gegenreformation innerlich erneuert und mittelalterliche Missstände abgeschüttelt, auch in der Schweiz.

Natürlich gab es noch die andere Seite der Gegenreformation: Die Verhärtung und den Machtanspruch der Katholischen Kirche. Trotzdem: Nach der Reformation und der Gegenreformation war nichts mehr wie vorher.

Liebe Mitglieder der Evangelischen Volkspartei

Sie müssen nichts abschütteln. Sie gehen gestärkt in die nächsten 100 Jahre.

Ich wünsche Ihnen viel Erfolg bei den Wahlen im Herbst!

Meiner Partei selbstverständlich auch ….. 

Grazie ancora per il vostro gentile invito!  


Adresse für Rückfragen:

Information EDA
Bundeshaus West
CH-3003 Bern
Tel.: +41 58 462 31 53
Fax: +41 58 464 90 47
E-Mail: info@eda.admin.ch


Herausgeber:

Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten


Letzte Aktualisierung 29.01.2022

Kontakt

Kommunikation EDA

Bundeshaus West
3003 Bern

Telefon (nur für Journalisten):
+41 58 460 55 55

Telefon (für alle anderen Anfragen):
+41 58 462 31 53

Zum Anfang