22.10.2012

Pfeffingen, 22.10.2012: Pfeffinger-Forum 2012 - Es gilt das gesprochene Wort

Meine Damen und Herren

Es gibt wohl wenige Orte in der Schweiz, die so geeignet sind, um über die „offene Schweiz“ nachzudenken, wie Pfeffingen. Von hier aus bis zur französischen Grenze bei Bättwil (im Kanton Solothurn), sind es gerade einmal sie-ben Kilometer Luftlinie. Das deutsche Grenzach-Whylen ist knapp zwölf Kilometer entfernt – also etwa gleich weit wie Liestal oder Basel.
Am Rande sei bemerkt, dass Bern rund 60 Kilometer ent-fernt ist und dazwischen noch der Hauenstein liegt …

Wir befinden uns in der Pfeffinger Mehrzweckhalle also in einer klassischen Grenzregion. Was heisst das? Ist die Schweiz hier in Pfeffingen besonders abgeschottet, weil es hier gleich zwei Landesgrenzen hat? Oder lehrt der Alltag in dieser Region, dass Grenzen eben keine Grenzen darstellen, sondern im Gegenteil – was auf den ersten Blick paradox tönt – für Offenheit stehen?

Viel spricht dafür, dass Sie, meine Damen und Herren, hier die offene Seite der Grenze leben: Das Länderdreieck Schweiz-Deutschland-Frankreich geniesst weit über die Region hinaus Modellcharakter für die grenzüberschreitende Zusammenarbeit. Dieses gutnachbarschaftliche Zusammenleben ist hier eine Selbstverständlichkeit.

Die Nachbarschaftspolitik wird in erster Linie von den Kantonen betrieben – die sogenannte „kleine Aussenpolitik“; die aber konkrete und grosse Resultate bringen kann…

Dies zeigt sich in Ihrer Region besonders gut. Hier wird die Nachbarschaftspolitik mit Erfolg betrieben. Zum Beispiel im Rahmen der Oberrheinkonferenz, bei der die fünf Nordwestschweizer Grenzkantone (Basel-Land, Basel-Stadt, Solothurn, Jura, Aargau) auf Schweizer Seite aktiv mitwirken. Seit Jahrzehnten schon besteht hier ein engmaschiges Gebilde, das als weitgehend homogenes und kompetitives Ganzes erscheint. Die Themen der Zusammenarbeit sind dabei sehr vielfältig und reichen von der Gesundheit über die Kultur und Wirtschaft bis hin zu Umweltfragen. Erwähnen möchte ich auch die grosse binationale Erdbebenübung, welche auf Initiative der Oberrheinkonferenz am 9. Mai 2012 im Raum Basel stattfand.

Auch Bern, Berlin und Paris befassen sich mit der Ober-rheinregion. Die Aussenministerien der drei Länder setzen sich im Rahmen der Regierungskommission des Oberrheins für die Entwicklung der Region ein und suchen Lösungen für nachbarschaftliche Fragen. Schliesslich möchte ich auch den Oberrheinrat, das „Parlament“ des Oberrheins erwähnen, der sich mit zentralen Fragen, wie zum Beispiel der Finanzierung des Bahnanschlusses des EuroAirports befasst. Er wird derzeit von einem Basel-Städter präsidiert.

Meine Damen und Herren

Macht es also überhaupt Sinn, dass wir hier in Pfeffingen die Frage stellen, was es mit der „offenen Schweiz“ auf sich hat? Hier, wo es scheint, dass die Landesgrenzen nicht Begrenzungen, sondern Brücken nach Deutschland und Frankreich sind.

Die Antwort ist ja. Es ist sinnvoll, über Offenheit zu reden und die Grenz-Frage zu stellen. Denn über Grenzen nach-zudenken, ist eine Reflexion über sich, über die eigene Identität und über die eigenen Erwartungen und Ziele. Identität hat sehr viel mit Tradition und Werten zu tun, denn sie helfen uns, uns selbst zu definieren – und auch Klarheit darüber zu bekommen, was wir wollen.

Die Schweiz ist ein Land, das viele Traditionen kennt und diese nicht leichtfertig aufgeben will und kann. Als Beispiel sei nur unser politisches System erwähnt. Der Föderalismus bildet den Rahmen für das Zusammenspiel – und manchmal auch das Ringen – unserer Bevölkerung, der Kantone und des Bundes zum Wohle des ganzen Landes. In unserer direkten Demokratie liegt nicht nur die Möglichkeit aller Bürgerinnen und Bürger begründet, zu politischen Vorlagen Stellung zu nehmen. Sie ist auch die Basis für eine breite und stete Diskussion über politische Aspekte und Themen, die uns alle betreffen. Wir müssen mit diesen Möglichkeiten der aktiven politischen Partizipation sorgsam umgehen.

Die Schweiz ist einerseits ein Land mit tief verwurzelten Traditionen und Werten. Das verleiht der Schweiz die sprichwörtliche politische und wirtschaftliche Stabilität. Die Schweiz ist ein Stabilitätsfaktor in Europa – und das ist auch für Europa gut.

Andererseits ist die Schweiz aber auch ein flexibles und stark globalisiertes Land, das sich mit den politischen und wirtschaftlichen Veränderungen und weltweiten Machtverschiebungen auseinandersetzen muss. Die Schweiz kann es sich darum gar nicht leisten, nur auf sich zu schauen. Wir müssen über die Grenze blicken und diese als Brücke zur Welt betrachten. Das birgt Risiken und Chancen. So sind wir von der Finanz- und Wirtschaftskrise betroffen, ob wir es wollen oder nicht. Auf der anderen Seite zeigt genau diese Krise die Stärken der Schweiz deutlich auf.

Vor diesem Hintergrund ist das Thema der heutigen Veranstaltung gut gewählt und die Frage nach der „offenen Schweiz“ aktuell und zeitlos zugleich. Die Frage beginnt schon damit, wie sie verstanden wird: ist sie eine Forderung, eine Hoffnung oder gar eine Bedrohung?

Meine Damen und Herren

Blicken wir genauer auf Pfeffingen und den Kanton Basel-Landschaft: Die Offenheit lässt sich hier auch in Zahlen ausdrücken. Jeden Tag kommen knapp 19‘000 Menschen aus dem Ausland in den Kanton Baselland zur Arbeit, rund 8000 aus Deutschland und etwa 11‘000 aus Frankreich. Diese Menschen tragen einen guten Teil zum grossen wirtschaftlichen Potenzial und zur Prosperität der ganzen Region bei.

Diese hohe Mobilität ist kein Zufall, verfügt Ihr Kanton doch über viele Gewerbebetriebe und Unternehmen, die auch im internationalen Rahmen konkurrenzfähig sind. Dank der Personenfreizügigkeit können Firmen im EU-Raum Arbeitskräfte rekrutieren, an denen in der Schweiz ein Mangel herrscht. Dies trägt dazu bei, dass sie flexibel auf neue Entwicklungen reagieren kann. Die positiven Auswirkungen der Personenfreizügigkeit, zum Beispiel bezüglich der Produktivität der Schweizer Wirtschaft, zeigen sich auch im Baselbiet. Dabei dürfen wir natürlich nicht vergessen, dass die Personenfreizügigkeit auch zu problematischen Folgen geführt hat.

Der Bundesrat verfolgt dies genau und ergreift dort, wo es nötig ist, entsprechende Massnahmen. Er legt sein Au-genmerk vor allem darauf, Defizite im Vollzug zu beheben. Zum Beispiel sollen Unterschiede bei der Beobachtung des Arbeitsmarkts durch die tripartiten Kommissionen verringert und Missbräuche noch konsequenter bekämpft werden. Ausserdem ist es dem Bundesrat ein Anliegen, die Zusammenarbeit der Akteure zu verstärken.

Die Offenheit zeitigt im Kanton Basel-Landschaft insbe-sondere auch im Bereich von Bildung und Forschung positive Folgen. Dieser Bereich ist speziell auf internationale Beziehungen angewiesen. Welch hohes Niveau in Ihrem Kanton hier erreicht worden ist, zeigt sich zum Beispiel an den zahlreichen Forschungs- und Entwicklungsinstitutionen im Pharma- und Life-Sciences-Bereich.

Schliesslich erlebt das Baselbiet auch direkt, was es heisst, dass die Schweiz Mitglied des Schengen-Raums ist. Dass seit 2008 beim Grenzübertritt keine systematischen Personenkontrollen mehr durchgeführt werden, wirkt sich gerade beim kleinen Grenzverkehr aus. Die Erleichterung der Reisefreiheit, die Schengen ermöglicht, ist in der Nähe von zwei Landesgrenzen besonders augenscheinlich. Auch werden Sie, meine Damen und Herren, in der Grenzregion Nordwestschweiz immer wieder mobilen Kontrollen begegnen, die mit dafür sorgen, dass das Sicherheitsniveau trotz geöffneter Grenzen weiterhin hoch ist.
An diesen Beispielen, meine Damen und Herren, sehen sie: Offenheit ist für den Erfolg zentral und schafft Chancen.

Wirtschaftliche Dynamik, hohes Bildungsniveau, grenz-überschreitende Mobilität: Der Kanton Basel-Landschaft hat sich im eigenen Interesse ein gewisses Mass an Durchlässigkeit seiner Grenzen erlaubt – er hat diese Chance genutzt.

Dieses Muster lässt sich auf die schweizerische Aussenpolitik anwenden. Auch hier geht es darum, die Chancen der Zusammenarbeit zu ergreifen und Risiken abzuwenden. Diese Abwägung bestimmt wesentlich mit, welche Art von Offenheit die Schweiz benötigt.

Besonders augenfällig wird dies beim Blick auf die Wirt-schaft. Die Schweiz ist eine Exportnation. Jeden zweiten Franken verdienen wir im Austausch mit dem Ausland, jeden dritten Franken im Austausch mit der EU. In die EU gehen rund 60 Prozent aller Waren, die die Schweiz jedes Jahr exportiert. Aus der EU stammen etwa 80 Prozent all unserer Importe. Dass hier die Politik dafür sorgen muss, dass unsere Unternehmen einen guten Zugang zum EU-Binnenmarkt und zu den Märkten in anderen Regionen der Welt haben, ist leicht einzusehen. Sonst wäre unsere Wirtschaft schlicht nicht konkurrenzfähig. Auch hier ist Offenheit also Voraussetzung und Chance in einem.


Meine Damen und Herren

Gemäss Bundesverfassung sind die grundlegenden Inte-ressen, die mit unserer Aussenpolitik gewahrt werden sollen, die Unabhängigkeit, die Sicherheit und die Wohlfahrt des Landes.

Zu den Werten, die bei der Wahrung dieser Interessen zu fördern sind, gehören die Linderung von Not und Armut in der Welt, die Achtung der Menschenrechte und die Förderung der Demokratie, das friedliche Zusammenleben der Völker sowie die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen. Damit wir uns für diese Werte überhaupt engagieren  können, ist Offenheit eine Voraussetzung: Nur wenn wir offen gegenüber der Welt sind, können wir auch diese Werte in die Welt hinaustragen.

Die Definition dieser Interessen und Werte ist auf Dauer angelegt und bietet ungeachtet der jeweiligen Entwicklungen im internationalen Umfeld der Schweiz einen stabilen Bezugsrahmen für unsere Aussenpolitik.

Zu diesem kommen noch fünf Grundsätze, an denen sich unsere schweizerische Aussenpolitik orientiert: Rechts-staatlichkeit, Universalität und Neutralität sowie Solidarität und Verantwortung. Lassen sie mich diese Begriffe kurz erläutern:

Die Rechtsstaatlichkeit ist wichtig, denn die Schweiz hat wenig Machtmittel und hat darum ein Interesse, dass auch auf internationaler Ebene der Vorrang des Rechts gilt.

Universalität, in der heutigen Welt absolut zentral, bedeu-tet, dass die Schweiz mit möglichst allen Staaten gute Be-ziehungen anstrebt. Und: Universalität setzt Offenheit vor-aus.

Neutralität ist, oberflächlich betrachtet ein Widerspruch zur Offenheit. Doch lassen wir uns nicht täuschen. Denn verbunden mit Offenheit eröffnet die Neutralität neue Möglichkeiten – wie es die Schweiz als ehrlicher Makler vorlebt. So nimmt die Schweiz beispielsweise eine spezielle Rolle in den Beziehungen zum Iran ein. Sie vertritt die amerikanischen Interessen und hält so einen wertvollen Kanal und den Dialog auch in schwierigen Zeiten aufrecht.

Und schliesslich Solidarität und Verantwortung. Die Schweiz kann und soll dank ihrer vielfältigen Stärken in verschiedenen Bereichen einen wertvollen und nützlichen Beitrag zur Lösung globaler Probleme leisten. Diesen Beitrag zu leisten und zu verstärken liegt im ureigenen Interesse der Schweiz. Denn wir haben ein evidentes Interesse an einem friedlichen und sicheren internationalen Umfeld, an der Einhaltung von Menschenrechten und daran, dass die Menschen in ihren jeweiligen Ländern ausreichende Zukunftschancen erhalten.

Vor rund 10 Tagen war ich mit einer Delegation in Burundi und im kongolesischen Südkivu, einer der ärmsten und fragilsten Regionen der Welt. Die Schweiz engagiert sich in der Region Grossen Seen für mehr Stabilität und dafür, den Menschen eine Entwicklungsperspektive zu geben. Dies zum Beispiel durch Unterstützung eines Spitals in Uvira, das wir besucht haben.

Hier konnte ich sehen, wie durch grosses Engagement aller Akteure den Menschen konkret geholfen und Hoffnung gegeben wird. Das ist gelebte Solidarität und Verantwortung.


Meine Damen und Herren

Vergangenen März hat der Bundesrat seine aussenpoliti-sche Strategie für die kommende Jahre festgelegt – eine langfristige Strategie. Diese umfasst vier Achsen: die Pflege und den Ausbau der Beziehungen zu den Nachbarstaaten, das Verhältnis zur EU, das Engagement für Stabilität in Europa und der Welt sowie strategische Partnerschaften und globale Themen.


In geografischer Hinsicht stehen die Beziehungen zu unseren direkten Nachbarstaaten im Vordergrund. Sie bilden die erste Achse der Strategie des Bundesrates. Hier in Pfeffingen betrifft das natürlich in erster Linie Deutschland und Frankreich. Aus nationaler Sicht gehören selbstverständlich auch Italien, Österreich und das Fürstentum Liechtenstein dazu –wie auch Grossbritannien, kein geografischer Nachbar zwar, aber ein uns in Werten und Interessen nahestehendes Land.

Mit all diesen Ländern haben wir ein enges und gutes Verhältnis und der Bundesrat hat seit Anfang Jahr die Beziehungspflege zu diesen Ländern auf allen Ebenen intensiviert. Diese Beziehungspflege ist wichtig, denn Beziehungen müssen gepflegt und gelebt werden. Und anstehende Herausforderungen müssen gemeinsam angegangen und nachhaltig gelöst werden.

Der lang anhaltende Fluglärmstreit zwischen dem Raum Zürich und süddeutschen Gemeinden ist ein Beispiel dafür, dass regionale Probleme rasch ein nationales Niveau erreichen können. Zwischen Bern und Berlin wurde jüngst ein wichtiger Schritt erreicht, der den Fluglärmstreit in absehbarer Zeit beenden könnte.

Doch wir müssen nicht nach Zürich blicken. Regionale Fragen gibt es auch hier. So hat die Schweiz lange Zeit mit Frankreich diskutiert, welches Arbeitsrecht für Angestellte von Schweizer Firmen am EuroAirport Basel-Mulhouse gelten soll.
Im letzen März konnten wir einen „Accord de méthode“ unterzeichnen, der in dieser Frage für mehr Klarheit und Rechtssicherheit sorgt. Die Lösung kam durch Dialog und Verhandlungen zusammen und ist ein gutes Beispiel für die fruchtbare Zusammenarbeit zwischen lokalen, regionalen und nationalen Behörden und Interessenvertretern. Entsprechend kennt eine solche Lösung auch viele Gewinner: angefangen bei den Arbeitnehmenden über die Betreiber des Flughafens und die einzelnen Unternehmen bis zur Grenzregion als Ganzes.

Doch auch die Schweiz und Frankreich können sich freuen. Denn Grenzregionen wie diejenige rund um Basel oder auch Genf sind Wachstumspole, die einen wichtigen Beitrag zur volkswirtschaftlichen Leistung unserer Länder leisten und in welchen die Behörden der beteiligten Staaten eng kooperieren. Das Beispiel EuroAirport zeigt, wie wichtig gute Beziehungen zu unseren Nachbarländern sind. Und es belegt eindrücklich, wie gut Probleme gelöst werden können, wenn man sich kennt und versteht. Und genau das ist zentral. In diesem Sinne werden wir auch die noch offenen Fragen beim EuroAirport angehen und einer Lö-sung zuführen.

Die zweite strategische Achse unserer Aussenpolitik be-trifft das Verhältnis zur EU. Dieses ist für die Schweiz von fundamentaler Bedeutung. Wenn die Schweizer Unternehmen wie erwähnt 60 Prozent aller ihrer Exporte in die EU ausführt und von dort rund 80 Prozent aller Schweizer Importe stammen, muss die Politik dafür sorgen, dass die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen stimmen. Dem Bundesrat ist es deshalb ein zentrales Anliegen, dass unsere Unternehmen denselben Zugang zu bestimmten Sektoren des EU-Binnenmarkts haben können wie ihre Konkurrenten aus dem EU-Raum. Mit verschiedenen bilateralen Verträgen haben wir diesen Zugang bislang gewährleisten können.

Der Bundesrat will den bilateralen Weg erneuern und ver-tiefen – ein Weg, der von Volk und Ständen an der Urne sieben Mal bestätigt wurde.
Zu diesem Zweck hat der Bundesrat der EU konkrete Vor-schläge im institutionellen Bereich gemacht. Diese Vor-schläge beantworten die vom EU-Rat 2010 gestellten Fra-gen.
Die Ausgangslage lässt sich folgendermassen skizzieren:
• Die EU verlangt, dass für alle, die an ihrem Binnen-markt teilnehmen, die Regeln einheitlich und zeitgleich gelten. Das gilt vor allem dann, wenn sich das Regelwerk ändert.

• Die Schweiz anerkennt dieses Anliegen der Homogenität. Es bringt unseren Unternehmen, die ihre Waren in die EU exportieren wollen, keine Vorteile, wenn sie nach anderen Standards produzieren als denjenigen, die auf dem EU-Binnenmarkt vorgeschrieben sind. Allerdings muss es auch in Zukunft die Entscheidung der Schweiz sein, ob sie eine Anpassung des Rechts, soweit dies bilaterale Verträge betrifft, übernehmen will.

Die schweizerischen Entscheidungsprozesse unterschei-den sich von denjenigen in der EU und in ihren Mitglied-staaten. Wir haben ein föderalistisches System, in dem die Kantone eine wichtige Rolle spielen, und ausserdem ein direktdemokratisches System, das zum Beispiel die Möglichkeit von Referenden vorsieht. Dieses Referendumsrecht steht nicht zur Disposition, denn dieses Recht ist für die schweizerische Demokratie zentral.
Deshalb ist für den Bundesrat auch eine automatische Übernahme von neuen Rechtsentwicklungen ausgeschlossen. Dynamik ja, aber Automatismus nein.
Ein weiterer Punkt betrifft die Frage der Überwachung der Verträge. Auch in diesem Bereich hat der Bundesrat einen konstruktiven Vorschlag gemacht. So schlagen wir eine unabhängige nationale Überwachungsbehörde vor. Ein supranationales Überwachungsorgan lehnt der Bundesrat dagegen aber ab.

Die Schweizer Vorschläge sind substanziell und konstruktiv. Das wird weitherum anerkannt. Das konnte ich bei meinen rund 15 bilateralen Kontakten mit Amtskollegen aus EU-Staaten feststellen. Die Antwort der EU-Kommission steht noch aus. Der Bundesrat erwartet, dass die Kommission die Vorschläge mit einer offenen und konstruktiven Haltung prüft.

Meine Damen und Herren

Allerdings darf man unsere bilateralen Beziehungen nicht auf die institutionellen Probleme reduzieren. Sonst könnte man dem Irrtum verfallen, das Verhältnis zwischen der Schweiz und der EU bestehe nur aus offenen Fragen. Das Gegenteil ist der Fall. Die Beziehungen sind eng, breit gefächert und von Offenheit und Kooperation geprägt.

Sie umfassen über die wirtschaftlichen Aspekte und Marktzugangsfragen hinaus verschiedenste Bereiche, in denen enge Kooperationen bestehen. Als Bereiche seien nur erwähnt: Bildung und Forschung, der Umwelt, Film, Landverkehr und Luftverkehr, Rüstungsprojekte oder auch die Statistik. Über eine Million EU-Staatsangehörige leben in der Schweiz, rund 450‘000 Schweizerinnen und Schweizer und damit zwei Drittel aller Auslandschweizer im EU-Raum. Täglich überqueren 1,3 Millionen Menschen die Schweizer Grenze in beide Richtungen, ausserdem rund 600‘000 Lastwagen.

Im Raum Nordwestschweiz laufen im Rahmen der Interreg-Förderprogramme verschiedene Projekte. Sie betreffen die gemeinsame Nutzung der ökonomischen Potenziale des Oberrheinraums, die Förderung dieses Raums als Bildungs-, Arbeits- und Wohnregion sowie die nachhaltige Gestaltung der Entwicklung des Oberrheinraums. Diese Interreg-Zusammenarbeit ist ein Paradebeispiel der gut funktionierenden Zusammenarbeit über die Grenzen hinweg.

Die dritte Achse unserer aussenpolitischen Strategie be-trifft die Stabilität in Europa und der ganzen Welt. Wirt-schaftliche und gesellschaftliche Unterschiede sind mögliche Auslöser von Spannungen. Im Zeitalter der Globalisierung hängen Sicherheit und Wohlstand der Schweiz grundlegend von einem stabilen internationalen Umfeld ab. Das haben die jüngste globale Finanzkrise oder auch die Ereignisse in Nordafrika wieder deutlich gemacht.

Deshalb nimmt das Engagement für die Stabilität in Euro-pa, in den europäischen Grenzregionen und in der übrigen Welt in der Aussenpolitik der Schweiz einen zentralen Platz ein. So unterstützt sie im Rahmen des Erweiterungsbeitrags zahlreiche Projekte mit dem Ziel, die wirtschaftlichen und sozialen Unterschiede in der erweiterten EU zu verringern.

Sie unterstützt Projekte in den Bereichen, die auch uns in der Schweiz besonders wichtig sind: Wirtschaftswachstum und bessere Arbeitsbedingungen, soziale Sicherheit, Umweltschutz, öffentliche Sicherheit und Stärkung der Zivilgesellschaft.

Auch im multilateralen Rahmen engagiert sich die Schweiz. So setzt sich die Schweiz seit bald 50 Jahren im Rahmen des Europarates für die Förderung von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten ein. Zu diesem Jubiläum werden wir Jugendliche aus ganz Europa in die Schweiz einladen, damit diese unser Land und unsere Werte – welche mit jenen des Europarates übereinstimmen – kennenlernen.

Ich möchte an dieser Stelle Herrn Regierungsrat Urs Wüthrich herzlich gratulieren zu seiner Wahl zum Vizeprä-sidenten der Kammer der Gemeinden und Regionen des Europarates. Ich freue mich auch, dass mit der Gemeindepräsidentin von Aesch, Frau Marianne Hollinger, eine weitere Person aus Ihrem Kanton der Schweizer Delegation im Kongress der Regionen und Gemeinden des Europarates angehören wird. Ich danke Ihnen jetzt schon für Ihr wichtiges Engagement.

Ein zweites Beispiel, wie die Schweiz zur Stabilität beiträgt, ist ihr Engagement in der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Die Schweiz wird 2014 die OSZE präsidieren und sie wird von 2013 bis 2015 in der Präsidentschafts-Troika präsent sein. Dabei beabsichtigen wir, die OSZE als ein Dialogforum für europäische Sicherheitsfragen zu stärken sowie die Fähigkeiten der Organisation für die Bewältigung von Krisen und Konflikten auszubauen. Die OSZE hat nach Ansicht der Schweiz ein noch nicht ausgeschöpftes Potenzial, das Vertrauen zwischen den Akteuren zu stärken und so einen Beitrag zur Stabilität des Kontinents beizutragen.
Die Region Basel wird 2014 Gelegenheit haben, diese Or-ganisation besser kennen zu lernen. Der Bundesrat hat nämlich beschlossen, die Konferenz der Minister der OS-ZE-Staaten – die im Dezember 2014 stattfinden wird – in Basel durchzuführen.

Meine Damen und Herren

Das Engagement für Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, Menschenrechte sowie für mehr Frieden und Sicherheit ist auch ein Kennzeichen der schweizerischen Aussenpolitik ausserhalb Europas. Erinnert sei etwa an die zahlreichen Mediationen, die die Schweiz bei Konflikten zwischen Staaten vornimmt. Mit einigem Erfolg konnten wir zum Beispiel zwischen Russland und Georgien oder zwischen der Türkei und Armenien vermitteln.
Zur Prävention von Konflikten und damit zur Förderung von Sicherheit und Stabilität gehört aber auch, rechtzeitig Strukturen aufzubauen, die den Dialog zulassen.

Dies lässt sich – zunächst vielleicht etwas überraschend – am Thema Wasser illustrieren: Der Kampf um die Nutzung von Wasser wird immer häufiger zu einem Grund für Konflikte. Deshalb wird das Thema des Wasserzugangs Auswirkungen auf die Ausgestaltung der politischen Beziehungen und Allianzen haben. In verschiedenen Flusseinzugsgebieten werden neue politische Verhaltensnormen und Prozesse entwickelt.

Wir müssen Wasser über die wirtschaftlichen und gesundheitlichen Aspekte hinaus immer mehr auch als Thema der Sicherheit erkennen. Hier muss das Ziel sein, Konflikte wegen des Wassers zu vermeiden. Dies können wir dadurch erreichen, dass wir frühzeitig Strukturen für ein gemeinsames Wassermanagement schaffen. Dort regeln die betroffen Akteure oder Regionen die Verteilung von Wasser gemeinsam.

Die Schweiz kann auf gute Erfahrungen mit dem grenz-überschreitenden Wassermanagement zurückblicken: Im Einzugsgebiet des Rheins wurde nach dem Zweiten Welt-krieg eine integrierte grenzüberschreitende Wasserbewirtschaftung eingeführt, die dazu beigetragen hat, dass eine früher umstrittene Region zu einer der friedlichsten Gegenden der Welt wurde.
Diese Erfahrung lehrt uns, dass Wasserkonflikte durch geschickte Prävention vermieden werden können.

Die Schweiz hat viel Erfahrung im Bereich der Friedensförderung und der Mediation und verfügt gleichzeitig über reichlich Know-how im Umgang mit Wasser – unser Land gilt nicht umsonst das Wasserschloss Europas. Das sind einerseits gute Voraussetzungen und andererseits eine Verantwortung, sich verstärkt in diesem Bereich der so genannten „Blue Diplomacy“ einzusetzen. Im Rahmen der UNO-Generalversammlung in New York habe ich Ende Sep-tember dazu aufgerufen, dass Wasser und Sicherheit in die globale UNO-Agenda aufgenommen werden. Damit diese Themen die weltweite Beachtung finden, die ihnen heute und in Zukunft gebührt.

Ein konkretes Beispiel sind die Blue-Peace-Initiativen. Sie tragen im Nahen Osten und im Niltal zwischen Sudan und Ägypten dazu bei, die Wasserbewirtschaftung zu verbes-sern und gleichzeitig den Frieden zu sichern.


Die vierte Achse unserer aussenpolitischen Strategie schliesslich widmet sich den sogenannten strategischen Partnerschaften und globalen Themen. Ausgangspunkt sind hier die weltweiten Entwicklungen. Diese betreffen zum Beispiel die wirtschaftliche und gesellschaftliche Dy-namik im Raum Asien-Pazifik, in Lateinamerika und auch in Afrika. Länder wie China und Indien, Russland, Staaten in Zentralasien, Südafrika oder Brasilien sorgen für eine Verlagerung des politischen und wirtschaftlichen Gewichts und pochen immer stärker auf Einflussnahme in den internationalen Organisationen wie der UNO oder der G-20, der Gruppe der zwanzig wichtigsten Industrie- und Schwellenstaaten.

Für die Schweiz bedeutet dies, dass sie ihre Beziehungen zu den Ländern in diesen Regionen vertiefen muss. Deshalb verhandeln wir gegenwärtig zum Beispiel mit Indien über ein Freihandelsabkommen. Ausserdem engagiert sich die Schweiz in Nordafrika aktiv im Transitionsprozess im Zuge des „Arabischen Frühlings“. So etwa in Ägypten, wo ich vor Wochenfrist mit dem Premierminister und dem Aussenminister Gespräche geführt habe.

Dabei ging es insbesondere um die Rückgabe der in der Schweiz blockierten Gelder des früheren ägyptischen Re-gimes. In diesem Bereich ist die Schweiz im internationalen Vergleich am weitesten vorangeschritten. Sie hat allein im Zuge des „Arabischen Frühlings“ Guthaben in Höhe von rund 1 Milliarde Franken blockiert.
Die rasche Rückgabe dieser Gelder ist für die Schweiz eine Priorität, allerdings – und das habe ich meinen Gesprächspartnern deutlich gemacht – muss dies nach rechtsstaatlichen Grundsätzen erfolgen.


Sehr geehrte Damen und Herren

Kooperation ist in der heutigen Welt der Schlüssel, um globale Herausforderungen anzugehen. Fragen des Han-dels, der menschlichen Sicherheit machen ebenso wenig an nationalen Grenzen halt wie Umwelt- oder Klimaprobleme.
Die Schweiz kann hier einen wertvollen und nützlichen Beitrag leisten. Beispielsweise im Bereich der Forschung, Bildung und Innovation. Ihre Region, aber auch die Schweiz als Ganzes ist ein Land der Wissenschaft und Innovation. Wir haben uns zum Ziel gesetzt, die Wissenschaftsdiplomatie zu stärken und einen noch effektiveren Beitrag zu leisten. Ein konkretes Beispiel ist die Initiative für eine Fernausbildung auf Hochschulniveau.

Dieses Projekt, das die Schweiz mit der ETH Lausanne an der Ministertagung der Frankophonie in Kinshasa präsentiert hat, setzt auf die Jugend in den Entwicklungsländern. Dank Fernkursen auf Universitätsniveau bauen die Studenten an ihrer Zukunft und an jener ihrer Länder. Ein Beispiel für innovative Entwicklungszusammenarbeit.

Einen wichtigen Platz in der Strategie nimmt auch das in-ternationale Genf ein. Einige der wichtigsten internationa-len Organisationen haben hier ihren Sitz. Das gilt auch für den Umwelt- und Klimabereich, für den Genf ein wichtiges Zentrum ist. Deshalb hat sich der der Bundesrat für die Kandidatur von Genf für den Sitz des Green Climate Fund stark gemacht. Dass am letzten Wochenende die Wahl für den permanenten Sitz des Fonds zugunsten von Songdo in Südkorea ausgefallen ist, ändert nichts an der hohen Priorität, welche die Schweiz der Umwelt- und Klimapolitik einräumt. Und was den Standort Genf angeht, wird die Schweiz alles daran setzen, diesen Standort langfristig zu stärken.
Aber Fakt ist: der Wettbewerb in der Welt wächst und Re-gionen wie Asien haben mehr Gewicht als früher und wol-len mehr Verantwortung übernehmen. Die Schweiz gewinnt nicht immer. Aber sie kann noch gewinnen, wie die Ernennung von Carla Del Ponte in die Untersuchungskommission für Syrien sowie die Wahl von Pascal Clivaz zum stellvertretenden Generaldirektor des Weltpostvereins jüngst gezeigt haben.  
Meine Damen und Herren

Die vier Achsen der aussenpolitischen Strategie haben unterschiedliche Ausrichtungen – wie die vier Arme des Schweizerkreuzes.
Sie haben aber einen gemeinsamen Kern: Will die Schweiz ihre Interessen wahren, muss sie gegenüber ihren Partnern offen sein und mit diesen zusammenarbeiten – ob dies nun gegenüber den direkten Nachbarstaaten oder der EU gilt, ihren strategischen Partnern oder im Rahmen internationaler Organisationen.

Deshalb lässt sich die Frage, ob eine „offene Schweiz“ eine Forderung, eine Hoffnung oder gar eine Bedrohung darstellt klar beantworten; Die offene Schweiz ist eine Notwendigkeit – eine Notwendigkeit, weil sie für vieles eine Voraussetzung ist und in vielen Bereich Chancen schafft. Denn Offenheit gegenüber dem Ausland, gegenüber Neuem, ist das Fundament des Erfolgsmodells Schweiz.

Offenheit ist aber kein Selbstzweck. Offenheit bedeutet, sich der Welt zu stellen und in dieser die eigenen Werte und Interessen zu vertreten. Proaktiv, innovativ, eigenständig und souverän. Die Aussenpolitik des Bundesrates bezweckt genau das. Kooperation ist dabei ein Schlüssel zum Erfolg: sowohl in der grenzüberschreitenden „kleinen Aussenpolitik“ als auch auf der Weltbühne.

Die guten Beziehungen zu unseren Nachbarstaaten sind dabei von zentraler Bedeutung. Wenn es hier gelingt, gut zu kooperieren und Lösungen zu finden, hat das positive Auswirkungen, die weit über die Nachbarstaaten hinausgehen. Ein Beispiel für gute Nachbarschaftspolitik ist der gemeinsame Aufruf gegen die Todesstrafe: Innerhalb von nur wenigen Tagen konnte die Schweiz die Aussenminister Deutschlands, Frankreichs, Italiens, Österreichs sowie die Aussenministerin des Fürstentums Liechtenstein für unsere Initiative gewinnen. Am Welttag gegen die Todesstrafe, am vergangenen 10. Oktober, haben wir diesen Aufruf gemeinsam öffentlich machen können. Wir planen, diesen Aufruf zu wiederholen und den Kreis der Beteiligten jedes Jahr grösser werden zu lassen…


Meine Damen und Herren

Ich habe Ihnen in groben Zügen einen Überblick über die Aussenpolitik der Schweiz gegeben. Es gibt nah und fern zahlreiche Herausforderungen, die es zu meistern gilt. Die Schweiz ist hierfür gut gewappnet. Aber wir müssen oft härter für den Erfolg arbeiten und innovativer sein. Denn die Schweiz gehört keiner Allianz an. Die Schweiz ist ein offenes, aber eigenständiges Land mit starker Identität und tief verwurzelten Werten. Das macht die Stärke der Schweiz aus: Offenheit und Eigenständigkeit.

Mit einer offenen und eigenständigen Aussenpolitik, die auf klaren Interessen, Werten und Grundsätzen beruht, sind wir gut gerüstet, um die künftigen Herausforderungen zu meistern.

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit und ich bin nun gespannt auf die Podiumsdiskussion.


Adresse für Rückfragen:

Information EDA
Bundeshaus West
CH-3003 Bern
Tel.: +41 58 462 31 53
Fax: +41 58 464 90 47
E-Mail: info@eda.admin.ch


Herausgeber:

Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten


Letzte Aktualisierung 29.01.2022

Kontakt

Kommunikation EDA

Bundeshaus West
3003 Bern

Telefon (nur für Journalisten):
+41 58 460 55 55

Telefon (für alle anderen Anfragen):
+41 58 462 31 53

Zum Anfang