23.04.2013

22.04.2013 - Europa Forum Luzern: Ansprache von Bundesrat Didier Burkhalter - Es gilt das gesprochene Wort

Rednerin/Redner: Bundespräsident, Didier Burkhalter (2014); Didier Burkhalter

Sehr geehrte Damen und Herren aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft
Liebe Europa-Interessierte

Das diesjährige Europa-Forum Luzern steht unter dem Motto der Baustelle. Europa wird treffenderweise als Baustelle beschrieben – was natürlich auch Rückwirkungen auf die Schweizer Europapolitik hat.

Baustellen sind nicht eben beliebt – denken Sie etwa an die beginnende Baustellensaison auf den Schweizer Strassen. Mir aber gefällt der Baustellenvergleich. Denn Baustellen bedeuten nicht nur, dass etwas nicht fertig ist. Nein, sie bedeuten auch, dass gestaltet wird und etwas Neues entsteht.

Was ist Politik und was ist wesentlich in der Politik? Dabei meine ich nicht die Definition im Wörterbuch, sondern frage Sie, was Politik für Sie persönlich bedeutet.

Für mich war es immer schon klar: Politik ist, Perspektiven für junge Menschen zu schaffen. Wir müssen Perspektiven schaffen, damit diese jungen Menschen ihre Fähigkeiten entfalten und ihre eigene Zukunft gestalten können. In der Schweiz gibt es diese Perspektiven, weil es Sicherheit und Prosperität gibt. Und vor allem, weil unser Land diese Realität durch Arbeit, Fleiss und die Schaffung von stabilen Institutionen über Jahrhunderte erkämpft hat. Begünstigend kommt hinzu, dass in Europa seit Jahrzehnten Frieden herrscht.

Meine Damen und Herren

Am Ende des Zweiten Weltkriegs war Europa keine Baustelle. Europa war vielmehr ein Trümmerhaufen. Gekennzeichnet von Krieg, Zerstörung und menschlichem Elend. Es waren die Amerikaner, die im wahrsten Sinne des Wortes die Baumaschinen aufgefahren (und auch bezahlt) und eine Perspektive aufgezeigt haben. Es lag danach an den Europäern, gemeinsam ein tragfähiges Bauprojekt zu entwickeln und umzusetzen.

Das Projekt Europa hat unseren Kontinent seither geprägt, auch die Schweiz. Der europäische Einigungsprozess hat wesentlich dazu beigetragen, dass aus Europa im Laufe der letzten Jahrzehnte eine Wirtschafts- und Sicherheitsgemeinschaft geworden ist.

Getragen durch den deutsch-französischen Schulterschluss – ich erinnere an den Elysée-Vertrag, dessen 50-Jahr Jubiläum wir dieses Jahr feiern – gelang es den Nationalstaaten allmählich, die tiefen Gräben zu überwinden, die zwei Weltkriege hinterlassen hatten.

Einige Staaten, so die Schweiz, setzten dabei auf wirtschaftliche Zusammenarbeit im Rahmen der EFTA. Andere strebten eine weitergehende wirtschaftliche und politische Integration an. Heute sind die EFTA und die EU Partner und Teil eines engen europäischen Kooperationsverbunds.

Das Projekt Europa hat neue wirtschaftliche Möglichkeiten geschaffen. Die Öffnung der Märkte hat entscheidend zum Wohlstand in Europa beigetragen. Die Schaffung des Binnenmarkts und die allmähliche Entstehung einer Solidaritätsgemeinschaft haben dabei auch wesentlich zur Befriedung Europas beigetragen.

Mit der Verleihung des Friedensnobelpreises 2012 an die EU wurde diese Errungenschaft zu Recht gewürdigt. Nach Jahrhunderten der Instabilität und Kriege hat Europa nach 1945 endlich ein Friedenssicherungssystem gefunden, das wirksam ist. Viele empfinden es heute als eine Selbstverständlichkeit, dass Europa eine Zone des Friedens ist. Als Aussenminister erlebe ich jedoch fast täglich, wie in vielen Regionen um Frieden gerungen wird, und wie sehr man Europa – und vor allem die Schweiz! –diesbezüglich beneidet.

Frieden ist kein Zustand, keine Selbstverständlichkeit. Frieden muss erarbeitet werden, immer und immer wieder.

Der europäische Einigungsprozess ist diesbezüglich eine Erfolgsgeschichte. Die Schweiz ist ein Teil von Europa. Sie hat sich in vielfältiger Weise am europäischen Friedensprojekt beteiligt und damit zum Erfolg Europas beigetragen. Ich werde auf diesen Punkt zurückkommen.

Unser Land hat sich dabei stets für ein Europa der Vielfalt und der unterschiedlichen Geschwindigkeiten und Modelle eingesetzt. Bereits einer der geistigen Väter des Einigungsprojekts, Denis de Rougemont – ein Neuenburger, übrigens – hat die Vielfalt zum Leitprinzip Europas erklärt. Seit dem Jahr 2000 heisst auch das offizielle Motto der EU: „In Vielfalt geeint“.

Die Schweiz hat sich für den bilateralen Weg und gegen die EU-Mitgliedschaft entschieden. Dieser souveräne Entscheid der Schweizerinnen und Schweizer hat uns aber nie davon abgehalten, enge und vielfältige Beziehungen zur EU zu pflegen. Wir sind mit der EU nicht immer einig und auch nicht eins, aber im Rahmen des bilateralen Wegs in vielen Bereichen „in Vielfalt geeint“. Sie sehen, wir nehmen die EU beim Wort!

Meine Damen und Herren

Das Erfolgsmodell Europa steht heute auf dem Prüfstand. Die EU befindet sich in der Krise. Neue Gräben und Baustellen öffnen sich.

Vordergründig sehen wir vor allem eine Schuldenkrise. Für die Mitgliedstaaten der Einheitswährung ist damit auch eine spezifische Krise der Eurozone verbunden. Sorgen bereitet aber auch die wachsende Vertrauenskrise in Europa. Die Finanzmärkte zeigen sich immer noch skeptisch, ob es den Eurostaaten gelingt, dem Auseinanderdriften ihrer Wettbewerbsfähigkeit Einhalt zu gebieten. Der Abbau von Schulden fällt in diesem Kontext schwer.

Gleichzeitig nimmt das Vertrauen vieler Bürgerinnen und Bürger in die EU – aber auch in nationale Institutionen – ab. Die wachsende Arbeitslosigkeit und die wirtschaftliche Not treiben viele Menschen auf die Strasse.

Geradezu erschütternd sind die Statistiken zur Jugendarbeitslosigkeit. In mehreren Ländern ist jeder zweite Jugendliche ohne Arbeit und somit ohne Perspektive. Ist es verwunderlich, wenn die Jugend der Europaidee zunehmend skeptisch gegenübersteht? Wo Perspektivlosigkeit herrscht, nimmt das Vertrauen ab und nimmt die Unzufriedenheit mit der Politik zu. Europa und Europas Jugend brauchen dringend wieder Perspektiven.

Verglichen mit vielen europäischen Staaten ist die Schweiz heute in einer ausserordentlich guten Verfassung. Wir können unserer Jugend Perspektiven bieten. Dafür gibt es Gründe. Institutionen wie die direkte Demokratie, das Milizsystem oder der föderale Staatsaufbau sorgen für Bürgernähe, politische Stabilität und ein gesundes Verhältnis von Ausgaben und Einnahmen. Unser Bildungswesen und die liberale Wirtschaftsordnung sorgen für tiefe Arbeitslosenzahlen. Gleichzeitig werden damit die Wettbewerbsfähigkeit und die Innovationskraft gestärkt. Gemäss einer im März 2013 veröffentlichten Rangliste der EU-Kommission ist die Schweiz der Innovations-Leader Europas. Die Schweiz hat damit gute Perspektiven.

Die Offenheit der Schweiz und ihrer Bürgerinnen und Bürger ist ein zentraler Erfolgsfaktor. International ausgerichtete Unternehmen wie Nestlé oder Swatch, aber auch unsere ETHs und Universitäten, sind beispielhaft für die ausgeprägte Innovationsfähigkeit und Dynamik unseres Landes. Dieser Geist der Freiheit und Offenheit sowie der Drang, Neues zu erforschen, machen den Erfolg der Schweiz aus.

Die Schweiz muss auf handels- und wirtschaftspolitische Öffnung setzen, um zu prosperieren – und um unseren Qualitätsvorsprung halten zu können. Die aktuell schwierige Lage Europas gibt dementsprechend Anlass zur Sorge.

Mehr als drei Viertel unseres Aussenhandels erfolgen mit den EU-Staaten. Der beidseitige Handel zwischen der Schweiz und der EU erreicht eine Milliarde Franken, und das täglich, notabene! Wir sind aufs engste mit unseren Nachbarn verbunden.

Hinzu kommt, dass die Schweiz viele der anstehenden Herausforderungen mit ihren europäischen Nachbarn teilt. Ich denke z.B. an die Energieversorgung, an die Migrationspolitik, an sicherheitspolitische Bedrohungen oder auch an Verkehrsfragen. Wirksam lassen sich all diese grenzüberschreitenden Herausforderungen nur gemeinsam anpacken.

Nicht nur teilen wir Herausforderungen mit Europa. Wir teilen auch die europäischen Werte. Auch deshalb ist die Schweiz Teil Europas. Die Werte, für die wir mit unserer Aussenpolitik einstehen, decken sich mit den Werten der umliegenden europäischen Staaten. Ich meine damit die Förderung von Demokratie, von Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten und von Frieden. Ich meine auch die Armutsbekämpfung und den Umweltschutz.

Sicherheit, Wohlstand und selbst Unabhängigkeit sind Themen, die uns mit Europa verbinden. Dies umso mehr, als der wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Einfluss der europäischen Staaten im globalen Rahmen abnimmt.

Meine Damen und Herren

Welche Folgerungen lassen sich aus diesen Überlegungen ziehen? Drei Punkte sind mir wichtig:

Erstens, die EU ist für die Schweiz kein Feindbild, sondern unser wichtigster wirtschaftlicher und politischer Partner. Die Schweiz ist ihrerseits aber auch ein gewichtiger Partner der EU. Es ist deshalb von grosser Bedeutung, dass die Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU gut funktionieren. Um dies sicherzustellen, arbeiten wir derzeit gemeinsam daran, den bilateralen Weg zu renovieren.

Zweitens kann die Schweiz auf die krisenhaften Entwicklungen in Europa nicht damit reagieren, dass sie sich von der EU abwendet. Wir sind keine krisenresistente Festung, die Zugbrücken hochziehen kann. Das gilt ganz besonders für den Bereich der Personenfreizügigkeit – der ein wichtiger Schlüssel zur Sicherung des bilateralen Wegs ist.

Drittens ist es im Interesse der Schweiz, ihren Beitrag an die Stabilität und Sicherheit Europas auch über die EU hinaus zu leisten. Unser diesbezügliches Engagement wollen wir in den kommenden Jahren verstärken und damit unserer Verantwortung im strategischen Umfeld der Schweiz gerecht werden. Das ist ein wichtiger Teil unserer interessen- und wertegeleiteten Europapolitik.

Lassen Sie mich im Folgenden zu diesen drei Punkten jeweils einige weiterführende Überlegungen anstellen.

Zunächst zum ersten Punkt der Renovierung des bilateralen Wegs: Alle unsere bisherigen Erfahrungen zeigen, dass sich der bilaterale Weg für die Schweiz bewährt.

Wirtschaftlich hat der Bilateralismus der Schweiz weitgehenden Zugang zum Binnenmarkt gesichert. Politisch trägt der bilaterale Weg den Schweizer Institutionen und dem schweizerischen Selbstverständnis Rechnung. Auch das ist von entscheidender Bedeutung für eine tragfähige Europapolitik.

Der Bundesrat will deshalb am bilateralen Weg festhalten. Dies umso mehr, als das Schweizer Stimmvolk den bilateralen Weg nicht weniger als sieben Mal bestätigt hat. Der bilaterale Weg ist die einzige trag- und mehrheitsfähige europapolitische Option. Dieser Weg ist sicher eine permanente Baustelle – Er ist aber keine Sackgasse.

Damit eine Erosion im Marktzugang für Schweizer Firmen auf die Dauer verhindert werden kann, muss der bilaterale Weg jedoch erneuert werden. Es geht dabei vor allem um eine Lösung der sogenannt institutionellen Fragen.

Als Basis für die bisher konstruktiv verlaufenen Gespräche zu diesen institutionellen Fragen dienten die Vorschläge der Schweiz vom letzten Jahr.

Diese haben wieder Bewegung in das davor blockierte Europadossier gebracht. Die Vorschläge beziehen sich auf die Einheitlichkeit in der Anwendung und Auslegung der Bestimmungen in den bilateralen Abkommen, auf die Rechtsentwicklung, die Anwendungsüberwachung und die Streitbeilegung.

Auf technischer Ebene sind die Gespräche inzwischen weit gediehen. Unsere Unterhändler erarbeiten derzeit einen gemeinsamen Bericht dazu – es ist ein Novum, dass die Schweiz und die EU einen solchen Bericht gemeinsam erstellen. Dem Bundesrat wird der Bericht als Grundlage dafür dienen, einen politischen Entscheid zu fällen, ob und wie er mit der EU auf dieser Basis über die institutionellen Fragen verhandelt wird – oder ob er es vorerst beim Status quo belassen will.

Ende 2012 hatte die EU signalisiert, dass sie grundsätzlich bereit ist, ihre Beziehungen zur Schweiz weiterhin auf der Basis bilateraler Verträge zu gestalten. Das war keineswegs selbstverständlich, waren zuvor doch auch anderslautende Forderungen aus Brüssel zu hören.

Die jetzt vorgeschlagenen institutionellen Modelle basieren alle auf diesem bilateralen Ansatz. Eine Einigung setzt allerdings voraus, dass sich beide Seiten in allfälligen Verhandlungen aufeinander zubewegen.

In diesem Zusammenhang dürfen wir erwarten, dass die Schweiz und die EU auf Augenhöhe diskutieren und in gegenseitigem Respekt Verhandlungen führen können, bei dem die Anliegen beider Seiten berücksichtigt werden.

Die Schweiz ist für die EU ein wichtiger Partner. Wir erwarten deshalb, dass unsere Eigenheiten und Charakteristika auch in einem renovierten bilateralen Weg berücksichtigt werden.

Die Schweiz ist weltweit der viertgrösste Handelspartner der EU. Auch trägt sie viel zum Abbau von wirtschaftlichen und sozialen Ungleichgewichten innerhalb der EU bei. Mit dem Kohäsionsbeitrag hat unser Land in den letzten Jahren den wirtschaftlichen, sozialen und gesellschaftlichen Fortschritt in den neuen EU-Mitgliedstaaten unterstützt. Erst kürzlich hat sich der Bundesrat dafür ausgesprochen, dass auch das künftige EU-Mitglied Kroatien mit einem Betrag von rund 45 Millionen Franken unterstützt werden soll, verteilt auf 7 bis 10 Jahre.

Die Schweiz trägt zudem über ihre Mitgliedschaft im IWF zu den Anpassungsprogrammen hochverschuldeter Euroländer bei, und dies gemessen an ihrer IWF-Quote in überproportionalem Masse. Sie tut dies aus Solidarität wie aus wohlverstandenem Eigeninteresse.

Auch in vielen anderen Bereichen ist die Schweiz ein wichtiger und verlässlicher Partner der EU: Erwähnt sei an dieser Stelle nur das Stichwort NEAT. Wir sind auch gerne bereit, Ländern mit hoher Jugendarbeitslosigkeit unsere Expertise bezüglich eines dualen Bildungssystems zur Verfügung zu stellen.

Es ist in unserem Interesse, wenn unser duales Bildungssystem ähnlich wie die Schuldenbremse zu einem Schweizer Exportschlager wird.

Meine Damen und Herren

Die bilateralen Verträge sind im gegenseitigen Interesse der Schweiz und der EU. Wir dürfen von der EU erwarten, dass sie auf unsere Anliegen eintritt. Gleichzeitig wird sich aber auch die Schweiz bewegen und auf die EU zugehen müssen, wenn wir den bilateralen Weg langfristig sichern wollen.

In diesem Zusammenhang höre ich ab und zu die Forderung, die Schweiz dürfe keine Kompromisse eingehen mit der EU. Meine Antwort darauf ist: Ohne gegenseitige Flexibilität und Kreativität wird die Renovation des bilateralen Wegs nicht gelingen, zum Schaden beider Seiten, zum Schaden unserer engen, vielfältigen und ausgewogenen Beziehungen – und insbesondere auch zum Schaden der Schweizer Wirtschaft.

Eine zielführende Europapolitik ist ein Nehmen und Geben. Im Rahmen einer Lösung der institutionellen Fragen würde die Schweiz mit der EU gewisse Regeln und Prinzipien des Binnenmarkts teilen. Auf welche Weise und in welchem Umfang sie das machen würde, wäre Gegenstand der Verhandlungen. Der Bundesrat wird sicher nicht um jeden Preis eine Lösung anstreben.

Wir sollten uns aber auch vor Augen führen, dass ein Anspruch auf verabsolutierte Souveränität nicht nur unrealistisch, sondern auch kontraproduktiv wäre. Die Schweiz hat ein existenzielles Interesse an Rechtssicherheit und Zugang zum Ausland. Ohne Gegenseitigkeit ist dies nicht zu haben. Staatliche Souveränität und Unabhängigkeit bedeuten, dass die Schweizer souverän und frei – eben unabhängig – über ihr Schicksal und über den europapolitischen Kurs entscheiden.

Das „Geben“ der Schweiz im Bereich der institutionellen Fragen wird denn auch abzuwägen sein mit dem „Nehmen“. Im Falle einer einvernehmlichen Lösung der institutionellen Fragen wird die Schweiz den bilateralen Weg konsolidieren und ausbauen können. Sie wird für die Schweizer Exportwirtschaft die Rechtssicherheit verbessern und den Zugang zum EU-Binnenmarkt langfristig sichern können – und dies ohne EU-Recht automatisch übernehmen zu müssen, darauf insistieren wir.

Anders als bei einem EWR- oder einem EU-Beitritt könnten wir unsere Beziehungen zur EU weiterhin eigenständig, massgeschneidert und themenspezifisch gestalten – das ist aus meiner Sicht ein ganz entscheidender Punkt.

Die Renovierung des bilateralen Wegs hat einen institutionellen Preis. Dafür sollten wir langfristige Rechtssicherheit erhalten sowie neue Marktzugangsabkommen abschliessen können.

Meine Damen und Herren

Noch stehen die politischen Entscheide der Schweiz und der EU aus, ob offizielle Verhandlungen über die institutionellen Fragen geführt werden. Sollte es dereinst dazu kommen, und sollte schliesslich ein Verhandlungsergebnis vorliegen, so ist dem Bundesrat vor allem eines wichtig: Dass dieses Ergebnis in einer nüchternen europa-, staats- und wirtschaftspolitischen Gesamtschau bewertet wird, auf der Basis eines sorgfältigen Abwägens aller Vor- und Nachteile.

Ein Nichteintreten auf Verhandlungen bleibt eine Option. Das ist ein souveränes Recht beider Parteien. Auch für diesen Fall sollten jedoch die möglichen Folgen antizipiert werden.

Damit komme ich zum zweiten Punkt – zum Thema der Personenfreizügigkeit. Bei dieser Freizügigkeit handelt sich um eine der vier Grundfreiheiten des Binnenmarkts. Gleichzeitig handelt es sich um einen zentralen Pfeiler im Verhältnis zwischen der Schweiz und der EU sowie deren Mitgliedstaaten. Die Personenfreizügigkeit zielt auf die Förderung der Mobilität von Erwerbstätigen. Es ist die Freizügigkeit und Mobilität der Arbeit. Sie erlaubt einerseits Schweizer Arbeitnehmenden und Selbständigen, in EU-Staaten zu leben und zu arbeiten. Und sie erlaubt andererseits der Schweizer Wirtschaft, die für sie geeigneten Arbeitskräfte zu rekrutieren.

Die Möglichkeit, Personen aus dem EU-Raum anzustellen, entspricht einem Bedürfnis der Schweizer Wirtschaft. Die derzeitigen Einwanderungszahlen reflektieren, dass es der Schweizer Wirtschaft gut geht. Überdies ist auch der Staat auf diese Personen angewiesen. Denken Sie etwa an die vielen tausend EU-Bürger, die in unseren Spitälern oder Pflegeheimen arbeiten.

Ohne diese Erwerbstätigen aus der EU stände die Schweiz heute nicht da wo sie ist. Das Freizügigkeitsabkommen hat dazu beigetragen, dass die Schweiz und ihre Wirtschaft die Finanz- und Wirtschaftskrise bisher verhältnismässig gut überstanden haben.

Richtig ist aber auch, dass die Freizügigkeit in Teilen der Schweizer Bevölkerung Unbehagen auslöst. Vor diesem Unbehagen dürfen wir nicht die Augen verschliessen.

Der Bundesrat setzt alles daran, gegen Probleme und Missbräuche konkrete und wirksame Massnahmen zu treffen. So hat die Schweiz flankierende Massnahmen zur Sicherung der in der Schweiz geltenden Lohn- und Arbeitsbedingungen ergriffen, die erst im Januar dieses Jahres nochmals ergänzt wurden.

Der Bundesrat will zudem sicherstellen, dass mit dem Freizügigkeitsabkommen keine Scheinselbständige und Migranten in die Schweiz kommen, die unsere Sozialleistungen missbrauchen. Die Personenfreizügigkeit ist eine Freizügigkeit für Erwerbstätige – diesen Grundsatz müssen wir konsequent durchsetzen.

Vorschläge wie die Möglichkeit zeitlich befristeter Wiedereinreisesperren für jene Personen, welche die Freizügigkeit für den Bezug von Sozialleistungen missbrauchen, sollten genauso vorbehaltlos geprüft werden wie Massnahmen zur verbesserten Reintegration solcher Personen in ihre Heimatländer. Anzustreben sind hier koordinierte Lösungen mit den europäischen Partnern, die von dieser Problematik genauso betroffen sind wie wir.

Meine Damen und Herren

In den letzten Wochen ist viel über die Ventilklausel diskutiert worden. Diese Klausel ist im Freizügigkeits-abkommen vertraglich verankert. Sie gibt der Schweiz die Möglichkeit, die Zuwanderung aus den EU-Staaten in den nächsten 12 Monaten ein letztes Mal zu beschränken. Danach ist sie gegenüber den EU-25 nicht mehr anwendbar.

Der Bundesrat wird bald einen Entscheid über die Aktivierung der Ventilklausel fällen. Er wird dabei einerseits die Erfahrungen mit der Ventilklausel im letzten Jahr berücksichtigen. Er wird den Blick aber auch nach vorne richten: Welche kurz- und mittelfristigen Folgen hat die Ventilklausel innerhalb der Schweiz? Welche Rückwirkungen könnte sie für die Europapolitik der Schweiz haben? Und wie ist die Wirksamkeit der Ventilklausel im Vergleich zu anderen Massnahmen zu bewerten?

Man kann für oder gegen die Aktivierung der Klausel sein. Klar ist aber, dass die zeitliche und quantitative Wirkung dieses Instruments sehr begrenzt ist. Die Zukunft der Migrationspolitik der Schweiz wird nicht durch den Entscheid betreffend die Ventilklausel geprägt werden.

Wichtiger als die Ventilklausel ist die Frage, mit welchen Massnahmen die Schweiz die Einwanderung im Rahmen der Freizügigkeit längerfristig beeinflussen kann. Ich denke zum Beispiel an Massnahmen, die sicherstellen, dass Aufenthaltsbewilligungen nur dann ausgestellt werden, wenn ein effektiver Arbeitsvertrag mit einer echten Tätigkeit vorliegt, der existenzsichern ist. Oder an einen strikteren Entzug des Aufenthaltsrechts bei Langzeitarbeitslosen.

Meine Damen und Herren

Das Stimmvolk wird im nächsten Jahr voraussichtlich mehrfach Gelegenheit erhalten, zur Freizügigkeit der Erwerbstätigen Stellung zu nehmen. Unter anderem dürfte es um die Erweiterung des Abkommens auf Kroatien gehen. In der Pipeline stehen aber auch zwei Initiativen, welche die Zuwanderung stark einschränken wollen.

Bei all diesen Vorlagen steht viel auf dem Spiel. Sie alle kennen die Guillotineklausel, gemäss welcher die Personenfreizügigkeit mit den anderen Abkommen der Bilateralen I verknüpft ist. Der Bundesrat wird alles daran setzen, mit Blick auf diese Abstimmungen die Vorzüge der Personenfreizügigkeit in Erinnerung zu rufen und gleichzeitig glaubhafte Antworten auf die Sorgen in der Bevölkerung zu geben.

Die Sicherung des bilateralen Wegs erfordert zum einen eine Einigung mit der EU über die gemeinsamen institutionellen Spielregeln. Zum anderen gilt es die bisherige breite innenpolitische Unterstützung des bilateralen Wegs weiterzuführen, auch im Bereich der Freizügigkeit der Erwerbstätigen. Ich bin überzeugt, dass beides gelingen kann. Denn der bilaterale Weg ist ein bewährter, erfolgreicher und souveräner Weg.

Ich möchte jetzt noch ein paar Überlegungen zu meinem dritten Punkt anstellen und damit den Blick öffnen über die EU hinaus. Europapolitik ist für die Schweiz weit mehr als nur EU-Politik. Die Förderung von Frieden, Sicherheit und Stabilität in Europa ist eine Priorität des Bundesrates. Ein solches Engagement ist im Interesse der Schweiz und gleichzeitig Ausdruck unseres Verantwortungsbewusstseins, unserer Solidarität und unseres Willens, gemeinsam mit unseren Partnerstaaten für europäische Werte einzustehen.

2014 wird unser Land die Präsidentschaft der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa übernehmen. Im Rahmen dieser anspruchsvollen Aufgabe will die Schweiz Beiträge zur Stabilität in allen Teilen von Europa leisten und mithelfen, im Sinne eines Brückenbauers die Polarisierung innerhalb der OSZE zu verringern und die Handlungsfähigkeit dieser Organisation zu verbessern.

Die OSZE verbindet in einmaliger Weise die euroatlanti-sche und die eurasische Sicherheit. Wir möchten im nächsten Jahr unter anderem die Rolle dieser Organisation bei der Bewältigung von Krisen und Konflikten sowie bei der Vermittlung stärken. Das wird viel Fingerspitzengefühl und eine realistische Erwartungshaltung unsererseits erfordern. Aber mit der Stärkung der OSZE stärken wir auch unsere Sicherheit.

Der Europarat bleibt für uns ebenfalls eine wichtige Organisation. In wenigen Tagen wird die Schweiz das 50. Jubiläum ihres Beitritts zu dieser Organisation begehen. Mit der Erarbeitung europäischer Standards im Bereich der Menschenrechte, der Rechtsstaatlichkeit und der Demokratie hat der Europarat die Identität des europäischen Kontinents entscheidend mitgeprägt. Auch dieses multilaterale Forum sollte aus Sicht der Schweiz aber noch handlungsfähiger werden. Die Schweiz setzt sich deshalb insbesondere für eine Reform des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ein.

Aber natürlich geht es uns nicht nur um die Stärkung multilateraler Strukturen in Europa. Wichtig sind vor allem auch wirksame Beiträge an die zivile und militärische Friedensförderung. Ich denke etwa an unsere Guten Dienste zwischen Russland und Georgien. Oder an unsere Vermittlung zwischen der Türkei und Armenien. An unsere Beiträge an die Vergangenheitsbewältigung im Westbalkan. Oder auch an die Swisscoy im Kosovo.
 
Die Schweiz hat in den letzten Jahren viel Kompetenz im Bereich der Friedensförderung entwickelt. Es ist in ihrem eigenen Interesse und im Interesse Europas, dass die Schweiz ihren Beitrag an das Wohlergehen unseres Kontinents leistet – und dies in der ihr eigenen Art und Weise.  

Meine Damen und Herren

Wer heute über Europa nachdenkt, kommt immer wieder auf die eine Frage: Wohin treibt Europa? Eine schlüssige Antwort darauf gibt es nicht. Mehr denn je ist Europa heute eine Baustelle. In welche Richtung ein Umbau und eine Erneuerung Europas zielen sollen, wird kontrovers diskutiert.

Diese Ungewissheit über die Zukunft Europas ist bisweilen quälend. Wie tief die neuen Gräben in Europa gehen werden, kann niemand vorhersagen.
Vielleicht resultiert die aktuelle Krise in einem neuen Integrationssprung der EU. Vielleicht akzentuiert sich aber auch die Tendenz zur Renationalisierung und politischen Fragmentierung.

Vielleicht machen die derzeitigen Austeritätsmassnahmen Europa fit für die Weltwirtschaft. Vielleicht enden sie aber auch in Instabilität, Elend und Desintegration.

Vielleicht finden der Westen und Russland wieder verstärkt zur Kooperation miteinander. Vielleicht gehen sie aber auch zunehmend eigene Wege – auf Kosten der Sicherheit Europas.

Meine Vision des künftigen Europa basiert auf zwei Leitgedanken: Einerseits wünsche ich mir ein handlungsfähiges Europa, das in der Lage ist, Friede, Freiheit und Wachstum zu sichern und europäische Interessen und Werte in der Welt zu wahren.

Andererseits wünsche ich mir ein Europa der Vielfalt, das seinen Reichtum an Sprachen, Kulturen und politischen Systemen bewahrt – und in dem die Schweiz die ihr eigene Rolle spielen kann, ganz im Sinne von Denis de Rougemont. Diese Rolle der Schweiz ist es auch, zur Stabilität von Europa beizutragen, was wir auch tun.

Ein Europa, das der Vielfalt unseres Kontinents Rechnung trägt, wird an Handlungsfähigkeit gewinnen. Denn die Vielfalt garantiert, dass Entscheide nahe an den Menschen und ihren Bedürfnissen getroffen werden. Das erhöht das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger – was für ein handlungsfähiges Europa wiederum eine Grundvoraussetzung ist.

Ein solches Europa schafft auch Perspektiven für unsere Jugend. Das ist das Ziel und das Herz der Politik. Die Schaffung von Zukunftschancen für unsere Jugend. In der Schweiz, in Europa, auf der ganzen Welt.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


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Letzte Aktualisierung 29.01.2022

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