04.11.2021

Ansprache von Bundesrat Ignazio Cassis, Vizepräsident des Bundesrates und Vorsteher des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten EDA gehalten anlässlich Dies Academicus - Es gilt das gesprochene Wort.

Speaker: Cassis Ignazio

Sehr geehrter Herr Professor Staffelbach
Sehr geehrter Herr Regierungsratspräsident
Sehr geehrter Herr Regierungsrat
Sehr geehrte Damen und Herren

Der Dies Academicus ist der Anlass, vollbrachte akademische Leistungen anzuerkennen und diese gebührend zu feiern. Ich möchte gleich eingangs allen Persönlichkeiten gratulieren, die heute für ihre Arbeit in Lehre und Forschung geehrt und ausgezeichnet werden. Herzliche Gratulation zu dieser bedeutenden Leistung!

1. Antizipation
Der Dies Academicus ist aber nicht nur der Anlass, vollbrachte akademische Leistungen zu ehren, sondern kann auch der Anlass sein, nach vorne zu blicken und zu überlegen, wie sich die Universität in den kommenden Jahren entwickeln wird.
- Kann man nach der Pandemie zum herkömmlichen Universitätsbetrieb zurückkehren? Oder sollen hybride Systeme, wie sie in letzter Zeit praktiziert worden sind, zur Norm werden?
- Wird die Universität Luzern dem gesellschaftlichen Wandel gewachsen sein? Kann sie diesen vielleicht sogar mitprägen?
- Und wird sich ihre humanwissenschaftliche Ausrichtung trotz - oder vielleicht gerade wegen - der rasant voranschreitenden technologischen Entwicklung der Menschheit bewähren?
- Und … wird das Studienangebot dereinst der Nachfrage der Studierenden entsprechen?

In einer verhältnismässig kurzfristigen Perspektive von sagen wir fünf Jahren mag das Bild noch überblickbar sein. Aber Universität und Standortkanton stellen heute die Weichen, die den eingeschlagenen Weg auch in zehn oder fünfundzwanzig Jahren, noch bestimmen werden.
Ist die UNI Luzern für die Herausforderungen in 10 oder 25 Jahren vorbereitet?

«It is difficult to predict, especially the future.» Sie kennen ja den berühmten Satz des dänischen Physikers Niels Bohr. Die Zukunft lässt sich bekanntlich nicht voraussagen. Selbst die beste Strategieschöpfung fusst in der Vergangenheit, wenn sie sich bloss auf gesicherte Daten und bewährte Praxis abstützt.
Wenn auch Sie nicht Antworten auf alle Fragen haben, dann befinden Sie sich in bester Gesellschaft! Denn erstens kommt es anders, und zweitens als man denkt.
Das geht nämlich auch dem Bundesrat so, und erst recht dem Aussenminister!

Nein, vorhersagen können wir die Zukunft nicht. Umso mehr müssen wir sie möglich machen. Wie, darüber möchte ich heute mit Ihnen sprechen.

2. Konvergenz der Wissenschaften, Beschleunigung der Technologie
Wir beobachten heute das Zusammenspiel zweier Entwicklungen:
- der bemerkenswerten Konvergenz der Wissenschaften einerseits,
- und der ungemeinen Beschleunigung der technologischen Entwicklung andererseits.

Neuro-, Bio-, Nano- und Informationswissenschaften laufen ineinander über und eröffnen dadurch ein ungeahntes Feld naturwissenschaftlicher Betätigung und Entdeckung. Dies wiederum führt zu technologischen Revolutionen in rascher Folge - mit kaum absehbaren Konsequenzen.
Die Stichworte sind Ihnen geläufig:
- Quantenrevolution,
- künstliche Intelligenz,
- technologische Erweiterung der menschlichen Fähigkeiten
- oder Geoengineering - der technische Eingriff in bio- und geochemische Kreisläufe der Erde.

Verstehen wir, was auf uns zukommt?
Gewiss nicht in aller Konsequenz! Wir wissen nur: Da geschieht etwas, das, vom menschlichen Genie angetrieben, die Menschheit verändern wird. Und damit auch die Art und Weise verändern wird, wie sich die Menschheit organisiert, wie sie sich zusammenfindet, um die globale Allmend zu bestellen.

3. Global Gouvernanz im Dienste aller
Genau das ist die Frage der sogenannten globalen Gouvernanz. Sie ist für das Fortkommen der Schweiz von zentraler Bedeutung, und zwar in doppelter Hinsicht.

- Erstens: Als Land, das keine Machtpolitik betreiben kann und will, sind wir auf ein funktionierendes internationales System angewiesen. Dieses muss das das gemeinsame Streben und Wollen der Staaten herauskristallisieren und in ein gemeinsames Recht fassen. 
Der Blick in unsere Bundesverfassung zeigt, wie sehr wir uns der Interdependenz der Staaten und Herausforderungen bewusst sind. In einem Satz: Wenn es allen gut geht, geht es uns gut – oder wie es eben Art 54 der Bundesverfassung ausdrückt:
«Der Bund setzt sich ein für die Wahrung der Unabhängigkeit der Schweiz und für ihre Wohlfahrt; er trägt namentlich bei zur Linderung von Not und Armut in der Welt, zur Achtung der Menschenrechte und zur Förderung der Demokratie, zu einem friedlichen Zusammenleben der Völker sowie zur Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen.»
Es braucht also ein System, das dieses Zusammenkommen ermöglicht.

- Das ist auch der Grund, wieso wir – zweitens – unsere besondere Rolle als Gaststaat der internationalen Gemeinschaft so ernst nehmen. Das geschieht in vielen Städten der Schweiz, aber ganz besonders in Genf. Das Genève internationale - wie man auf Welsch so schön sagt -  ist nicht nur eines der bedeutendsten Gouvernanz-Zentren weltweit, sie verleiht der Schweiz auch einen besonderen Status im Konzert der Nationen.

Zwar etabliert die UN-Charta den Grundsatz der souveränen Gleichheit aller Staaten. Will aber ein Staat seine Interessen wirkungsvoll vertreten, so kommt es ihm zupass, wenn er aufgrund seiner Stellung und Leistung geachtet wird, glaubwürdig ist und deshalb Gehör findet. Dieses spezifische Gewicht der Schweiz in den internationalen Beziehungen liegt nicht zuletzt im internationalen Genf begründet.

Es ist deshalb das Anliegen des Bundesrates, dass die internationale Gouvernanz, wie sie in Genf betrieben wird, funktionstüchtig ist. Dass sie die Zeichen der Zeit mit all ihren Herausforderungen und Chancen erkennt. Und dass sie diese zum Gewinn aller Staaten und aller Menschen auf dieser Welt weiterbringen kann.

4. Antizipatorische Wissenschaftsdiplomatie als Grundlage der Gouvernanz des 21. Jahrhunderts
Wir wollen das internationale Genf des 21. Jahrhunderts schaffen. Wir müssen sicherstellen, dass wir als internationale Gemeinschaft ein Ahnungsvermögen dafür entwickeln, wie die wissenschaftliche und technologische Entwicklung den Gang der Menschheitsgeschichte verändern wird. Damit wollen wir unsere Handlungsfähigkeit bewahren und unsere Gestaltungskraft stärken.

Es scheint mir für die Schweiz als führende Nation in Wissenschaft und Innovation sowie als Land, das für die hohe Qualität seiner Diplomatie anerkannt ist, natürlich zu sein, diese beiden Assets – Wissenschaft und Diplomatie – miteinander zu verbinden.

Zugegeben, die Idee ist nicht neu. Seit rund zehn Jahren gibt es weltweit Versuche, diese beiden Instrumente unserer Gesellschaften enger zusammenzubringen. Neu ist aber der Versuch, daraus ein eigenes Asset für die globale Gouvernanz zu machen. Und Genf scheint hierzu gerade prädestiniert, zumal das seit 70 Jahren bestehende CERN ein konkretes Beispiel davon ist.

Wissenschaft und Diplomatie vereint zur sogenannten «science diplomacy», auf Deutsch «Wissenschaftsdiplomatie». Das ist zwar richtig übersetzt, aber der Begriff greift meines Erachtens zu kurz. Wie übrigens auch die französische Übersetzung «diplomatie scientifique». Es geht nämlich nicht primär darum, mehr scientific evidence in die diplomatische und politische Arbeit zu lassen – was in meinen Augen aber gar nicht so schlecht wäre! – sondern es geht darum, gesellschaftlichen Mehrwert zu schaffen. Die Zusammenführung von science und diplomacy soll mehr als die rein arithmetische Summe dieser zwei Systeme ergeben.
Konkret versuchen wir damit, die möglichen Entwicklungen der wissenschaftlichen Forschung und der technologischen Erneuerungen zu antizipieren und zur öffentlichen Diskussion zu stellen, damit die besten Entscheide getroffen werden - im Dienst jedes Menschen.

Zu diesem Zweck haben der Bundesrat und der Staatsrat des Kantons Genf mit der Unterstützung der Stadt Genf die Stiftung Geneva Science and Diplomacy Anticipator oder kurz GESDA gegründet. Diese hat den Auftrag, eine entsprechende Methode zu entwickeln und zu testen. Sie lässt sich in drei Begriffe fassen:
1. Anticipation
2. Acceleration
3. Translation.

5. Anticipation – Acceleration - Translation
Anticipation
Vor kurzem hat GESDA am ersten Geneva Science and Diplomacy Anticipation Summit die erste Auflage des GESDA Science Breakthrough Radar vorgestellt. Der Radar wurde von 543 der weltbesten Wissenschaftler erarbeitet und bietet eine Übersicht über die wissenschaftlichen Trends und Entwicklungen, die in einem Zeithorizont von fünf, zehn und fünfundzwanzig Jahren erwartet werden. Zudem beinhaltet er auch eine Synthese zur weltweiten Debatte in den beschriebenen Entwicklungsbereichen.
Der Radar ist in zweierlei Hinsicht eine Innovation:
1. Zum einen verfügt die internationale Gemeinschaft nun erstmals über eine Gesamtübersicht der wissenschaftlichen und technologischen Zukunftsanalyse, statt bloss über vereinzelte, fachspezifische Abhandlungen. (Der Radar beschlägt im Ganzen vierundzwanzig Wissenschafts- und Technologiebereiche).
2. Und zum anderen läutet der Radar für die Diplomatie einen Paradigmenwechsel ein: Statt wie bis anhin nur von konkreten, bereits existierenden Herausforderungen auszugehen und zu versuchen, diese bestmöglich in den Griff zu bekommen, soll die Diplomatie ermächtigt werden, Entwicklungen vorwegzunehmen und sich rechtzeitig, das heisst frühzeitig auf sie einzustellen.

Die ersten Reaktionen sind ermutigend. Vertreter von Staaten und internationalen Organisationen haben das Instrument als zeitgemäss und hochwillkommen bezeichnet, Universitäten wollen den Radar in ihrer Forschungsplanung einsetzen, Unternehmen wollen ihn für ihre Strategiearbeit benutzen.

Der Radar wird jährlich neu aufgelegt werden. Nächstes Jahr auch mit der Beteiligung von Human- und Sozialwissenschaftlern, denn es ist klar, dass auch sie bereits in der Erarbeitung der Antizipation voll eingebunden sein müssen und nicht erst in der Diskussion über den Umgang mit ihren Folgen.

Acceleration
Die Erkenntnisse der wissenschaftlichen Antizipation müssen sodann politisch diskutiert werden. GESDA nennt diese Phase «Akzeleration», weil es darum geht, das internationale Handeln in Kenntnis der Sachlage zu beschleunigen. Diese Diskussion muss breit angelegt sein und alle relevanten Interessen- und Anspruchsgruppen einschliessen - also die Wissenschaft, die Diplomatie und Politik, die Wirtschaft, die Philanthropie, die zivilgesellschaftlichen Organisationen genauso wie die Bürgerinnen und Bürger weltweit.
Die Fragen, die sich hier stellen, lauten:
- Verstehen wir die Aussagen des Radars richtig?
- Schätzen wir die Konsequenzen, die sich daraus für die Menschen, die Gesellschaft und den Planeten ergeben, richtig ein?
- Entwickeln wir gute Antworten darauf? Sind diese auch umsetzbar?

Diese Arbeit findet nun in acht Diskussionssträngen statt, die sich Fragen
- der fortgeschrittenen künstlichen Intelligenz,
- der Quantenrevolution,
- der Neuro-Rechte,
- der Dekarbonisierung,
- der digitalen Ermächtigung,
- der antizipatorischen Wissenschaftsdiplomatie als Gegenstand von Lehre und Forschung
- sowie der Normen und Prinzipien des Wissenschaftsbetriebs widmen.
Diese Diskussionen werden unterschiedlich schnell vorankommen. Neue Diskussionsstränge werden dazukommen. Andere werden an Bedeutung verlieren. Aber allen gemeinsam ist der Wille, die Art und Weise zu erneuern, mit welcher die internationale Gemeinschaft mit Herausforderungen umgehen soll. Wir müssen sie nämlich proaktiv angehen, statt sie bloss auf uns zukommen zu lassen.
Hierzu ein aktuelles, konkretes Beispiel: Die mRNA-Technologie, die den erfolgreichen Covid-19-Vakzinen zugrunde liegt, ist seit etwa dreissig Jahren bekannt. Hätte die internationale Gemeinschaft dies zur Kenntnis genommen und sich überlegt, wofür diese Technologie nutzbar gemacht werden kann, wäre dann die frühe Phase der aktuellen Pandemiebekämpfung gleich verlaufen?

Die Stiftung handelt - wie die Schweiz in der Welt - als honest broker. Sie stellt den wissenschaftlichen Input bereit, organisiert die Diskussionen und stellt dabei sicher, dass der Austausch alle Kräfte, die von den antizipierten Entwicklungen im Guten wie im Bösen betroffen sein werden, einbindet.
Ich sehe das Ganze gewissermassen als Gärungsprozess: In einem geschützten Raum reifen Einsichten und Ideen heran. Es werden Lösungsansätze diskutiert und durchgespielt. Werden diese Lösungsansätze als angezeigt, angemessen und umsetzbar erkannt, kann sich dann die internationale Gemeinschaft deren bemächtigen.

Translation
Es liegt dann aber nicht an GESDA, diese Lösungsansätze selber umzusetzen. Die Stiftung ist nicht eine neue internationale Organisation. Sie ersetzt keine bestehenden Einrichtungen oder die Staaten als legitime Akteure der internationalen Gouvernanz. Vielmehr liegt es an ebendiesen, die Lösungsansätze, die in der beschriebenen Sequenz von Antizipation und Akzeleration herangereift sind, aufzugreifen und in den herkömmlichen Prozessen zu realisieren.

6. Das Wagnis der Innovation
Was wir hier mit GESDA versuchen, ist neu. Und damit schwierig. Die Kombination von Antizipation – die weit vorausschaut – und Aktion – die unmittelbar greifen muss – ist schon eine Herausforderung an sich. Und die Methode, mit der wir diese Brücke schlagen wollen, ist für alle Teilnehmer neu und unerprobt.
Persönlich habe ich aber noch keinen besseren Vorschlag gesehen, wie sich die Staatengemeinschaft dank einer klugen Wissenschaftsdiplomatie für die Herausforderungen der kommenden rüsten kann.
Wir erschaffen hier ein Instrument, das in Genf beheimatet ist und aus Genf heraus operiert. Aber unser Anspruch ist universell. Wir arbeiten für die globale Allmend - sei dies nun im grossen Gouvernanzstandort Genf selber oder durch die Vermittlung von Genfer Methode und Inhalt überall auf der Welt.

Gerne lade ich die Universität Luzern an ihrem Dies Academicus ein, den Weg der antizipatorischen Wissenschaftsdiplomatie mitzugehen und ihre human- und sozialwissenschaftliche Kompetenz und Einsicht beizusteuern. Es wäre auch eine neue Rolle für die Universität Luzern und für mich eine Ehre, wenn ich sie für die globalen Bemühungen der Schweiz als Gaststaat der Weltgouvernanz gewinnen könnte!

In diesem Sinne wünsche ich der Universität Luzern nur das Beste!
Alles Gute, viel Erfolg, aber vor allem viel Begeisterung, Neugier und Faszination beim Entdecken und Gestalten unserer Zukunft! Danke für Ihre Aufmerksamkeit.


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Last update 29.01.2022

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