12.06.2019

Laudatio Prix Caritas 2019

Speaker: Pascale Baeriswyl

Sehr geehrter Frei Adailson Quintino dos Santos
Sehr geehrte Lucimar Correa
Geschätzte Gäste und Anwesende

I.

«An den Frieden denken heisst, an die Kinder zu denken.» Diese Aussage hat der ehemalige Präsident der Sowjetunion Gorbatschov in einem Brief an die Kinderbuchautorin Astrid Lindgren gerichtet.

Im Jahre 1923 – kurz nach dem Ersten Weltkrieg - meinte die englische Grundschullehrerin Eglantyne Jebb: «Ich bin davon überzeugt, dass wir auf bestimmte Rechte der Kinder Anspruch erheben und für deren umfassende Anerkennung arbeiten sollten.» Sie verfasste im Rahmen des Völkerbundes eine Kinder-Charta, die im Jahr 1924 als Genfer Erklärung in die Geschichte einging.

Nach dem Zweiten Weltkrieg, der auch für Kinder und Jugendliche enormes Leid verursachte, wurde 1946 das Kinderhilfswerk UNICEF gegründet, um ihre Not zu lindern. Weitere 43 Jahre später gelang es der Staatengemeinschaft an der UNO schliesslich, eine Kinderrechtskonvention zu verabschieden. Mit ihrer Unterschrift verpflichten sich die Staaten verbindlich dazu, sich für das Wohl der Kinder einzusetzen, ihre Rechte anzuerkennen und sie zu fördern: Kinder haben ein Recht auf Gesundheit, Bildung und Fürsorge. Sie haben ein Recht auf Gleichbehandlung und Schutz vor Diskriminierung, körperlicher Gewalt sowie jeglicher Ausbeutung.

Die UNO-Kinderrechtskonvention ist aus dem Teenageralter herausgewachsen, denn sie feiert im Herbst ihren 30. Geburtstag. Sie wurde von 196 Staaten ratifiziert. Keine andere Konvention geniesst weltweit eine so hohe Anerkennung und universelle Geltung: «Pacta sunt servanda», lernten wir – selber Kinder - von unseren Eltern: «An Abmachungen hält man sich.» Dies gilt auch für Staaten.

Und dennoch: Nach Analysen der Weltbank wachsen heute weltweit über 400 Millionen Kinder in extremer Armut auf: Dies bedeutet, dass 400 Millionen junge Menschen um ihre Zukunft bangen müssen. Und noch schlimmer: Häufig werden sie auch ihrer Gegenwart beraubt.

In Rio de Janeiro beispielsweise leben mehr als 5000 Kinder und Jugendliche auf der Strasse. Sie schlagen sich mit Gelegenheitsarbeiten durch. Die meisten haben keine Grundschule besucht und sind Analphabeten. Diese Kinder kämpfen Tag für Tag um ihr Überleben. Und praktisch jeden Tag verliert ein junger Mensch diesen Kampf und stirbt wegen gewalttätiger Übergriffe vonseiten paramilitärischer Gruppen, der Polizei oder krimineller Drogenbanden. Jedes Jahr werden in Rio mehr als 300 Kinder umgebracht. Und die Gesetze, deren Aufgabe Schutz und Unterstützung dieser Jugendlichen wäre, finden ungenügend Anwendung. Staat und Gesellschaft scheinen diesen Gewaltverbrechen gegenüber hilflos, schlimmstenfalls gleichgültig.

Neben der inakzeptablen Tatsache, dass Gesetze missachtet und Konventionen nicht eingehalten werden, gibt es aber auch Hoffnung. Es sind Initiativen wie «São Martinho», eine Stiftung, die sich seit 1984 – also länger als es die Kinderrechtskonvention gibt – für die gefährdeten Jugendlichen in den Strassen von Rio einsetzt. Und das Credo von «São Martinho» ist einfach. Es lautet: Kinder müssen vor gewalttätigen Übergriffen geschützt werden. Sie haben das Recht, sich als eigenständige Wesen zu entwickeln. Und in ihrem Bemühen, sich in die Gesellschaft zu integrieren, müssen sie unterstützt werden.

Und hier legt das Centro «São Martinho» einen beeindruckenden Leistungsausweis vor: Es betreut jährlich rund 1800 Jugendliche. 800 davon haben durch eine der 40 Partnerorganisationen einen Ausbildungsplatz erhalten. Und 540 Familien sind in die Sozial- und Rechtsberatung des Centro einbezogen.

Mit dem Prix Caritas 2019 ehren wir heute zwei Persönlichkeiten, die sich mit der Stiftung «São Martinho» unerschrocken, mit viel Herzblut und sehr langem Atem für den Schutz armer Kinder und Jugendlicher einsetzen: Frei Adailson und Lucimar Correa nehmen diesen Preis in Vertretung der Stiftung entgegen. Ich verneige mich vor ihrem Mut und gratuliere sehr herzlich zu dieser Auszeichnung.

Frei Adailson und Lucimar gehen in Ihrer täglichen Arbeit systematisch und zugleich differenziert vor. Mit mobilen Teams suchen sie den Kontakt zu den Jugendlichen auf der Strasse. Sie greifen Ihnen für die Bewältigung des Alltags unter die Arme. In ihren Zentren erhalten Kinder und Jugendliche Zugang zu Freizeitaktivitäten. Sie machen Musik, spielen Theater oder treiben Sport. Den Jugendlichen werden grundlegende Schulfächer vermittelt, um sie auf einen Beruf vorzubereiten. Und man hilft ihnen dabei, eine Lehrstelle zu finden, damit diese Kinder und Jugendlichen eine existenzsichernde Zukunft haben können.

«São Martinho» tritt aber auch auf einer gesellschaftspolitischen und wissenschaftlichen Ebene für den Schutz und die Rechte von Kindern und Jugendlichen ein. Deshalb ist sie nicht nur in Rio de Janeiro, sondern in ganz Brasilien eine herausragende und anerkannte Institution geworden. Dank Ihrer Kompetenz und Konsequenz. Mit dem Prix Caritas 2019 soll «São Martinho» ermutigt werden, das Engagement fortzusetzen und weiterzuentwickeln. Es ist unverzichtbar.

II.

Meine Damen und Herren, sehr geschätzte Anwesende

Kinder und Jugendliche sind nicht nur Opfer und Benachteiligte. Sie sind auch Akteurinnen und Akteure: «Wir sind hier, wir sind laut, weil Ihr uns die Zukunft klaut», skandiert seit dem Dezember des vergangenen Jahres mit den «Fridays for Future»-Kundgebungen eine weltweite Streikbewegung für das Klima. Sie reicht von Honolulu bis Mauritius und von Argentinien bis nach Grönland. Die streikenden Jugendlichen geben uns zweierlei zu verstehen. An die Adresse der Politik sagen sie: Wir bitten Euch dringend, haltet das Pariser Klimaübereinkommen ein, das Ihr vor vier Jahren verabschiedet habt. Dies ist im Grunde eine brave und konservative Forderung. Die Schülerinnen und Schüler erinnern die Politik an ihre Pflicht zur Vertragstreue: «Pacta sunt servanda», «Abmachungen sind einzuhalten.» Die Jugendlichen monieren aber auch: «Wir finden es nicht nachvollziehbar, mit welcher Selbstverständlichkeit ihr – gemeint sind natürlich wir - die Existenzgrundlagen der künftigen Generationen aufs Spiel setzt.»

Frei Adailson und Lucimar sowie die streikenden Schülerinnen und Schüler bitten uns also mit Ihrem Engagement darum, unsere Pflichten zu erfüllen. Sie fordern uns auf, Kindern und Jugendlichen Wege in die Gegenwart und in die Zukunft zu weisen. Damit ist der Prix Caritas 2019 auch ein Aufruf an uns alle. Er nimmt allerdings auch die Jugendlichen am Freitag auf den Strassen in die Verantwortung, damit sie das Engagement für ihre Zukunft – in Partnerschaft mit uns und nicht nur auf der Strasse, sondern bald als Erwachsene im politisch-demokratischen Prozess – fortsetzen mögen. Und zwar mit dem langen Atem von «São Martinho».

III.

Geschätzte Anwesende

Erlauben Sie mir zum Schluss eine Bemerkung als Staatssekretärin des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten: Wie Sie alle beobachten können, erleben wir gegenwärtig geopolitisch herausfordernde Zeiten. Bisher akzeptierte Regeln – auch jene der Erfüllung von Verträgen – werden missachtet. Der Ungeist der Provokation und Konfrontation, des Rechts des Stärkeren und des Nationalismus gewinnt an Boden. Nichts liegt mir ferner, als in Schwarzweiss-Malerei zu verfallen oder die Kassandra zu spielen. In Zeiten der Unsicherheit ist es jedoch zentral, sich – neben viel Pragmatismus – immer wieder auch auf das ganz Grundsätzliche zu besinnen.

In unserer Aussenpolitik vertreten wir gleichermassen Interessen und Werte. Grundpfeiler sind die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit, der Universalität und der Neutralität. Sie geben uns in Zeiten des Sturms eine wichtige Orientierungshilfe. Auf international funktionierende Regeln sind wir als vernetztes Land ohne grosse Militärmacht wirtschaftlich und existenziell angewiesen. Und die Neutralität hilft uns dabei, nicht mit in den Strudel der Auseinandersetzungen gerissen zu werden. Neutralität bedeutet allerdings nicht, abseits zu stehen, und gegenüber Rechtsverletzungen gibt es keine Neutralität. Studien haben dargelegt, welche Aspekte der Neutralität der Schweizer Bevölkerung besonders wichtig sind. An erster Stelle wurde Solidarität genannt, was Schweizerinnen und Schweizer auch immer wieder durch bedeutende Spendeaktionen eindrücklich unter Beweis stellen.

Auch in der Aussenpolitik sind deshalb für uns – nach Massgabe unserer Verfassung -  die Bekämpfung von extremer Armut und Not, der Einsatz für Menschenrechte und Demokratie, für Wohlstand, für unsere Umwelt sowie für Frieden und Sicherheit die fünf bestimmenden Ziele. Wir müssen uns für eine Welt einsetzen, in der sich die Menschen unabhängig von sozialer, kultureller, ethnischer oder religiöser Herkunft und Geschlecht in einer demokratischen Gesellschaft entfalten und ihren Beitrag leisten können. Dies liegt im Urinteresse unseres Landes.

Mit Ihrer Unterstützung der Arbeit der Caritas tragen Sie aktiv zu einer Kultur der Solidarität bei. Sie fördern ein wegweisendes Engagement wie jenes des Centro «São Martinho». Staatliches Handeln in der internationalen Zusammenarbeit ist nur dann effizient, wenn es Hand in Hand mit der Überzeugung und dem Engagement unserer Bürgerinnen und Bürger geht, die sich – wie unsere Preisträgerin und unser Preisträger – immer wieder auch von einer Kultur der Unterstützung, Solidarität und Vertragstreue leiten lassen.

Ich danke deshalb allen, die Sie hier sind, ganz besonders auch Caritas für ihr jahrzehntelanges Engagement in der Entwicklungshilfe. Und ich danke besonders Frei Adailson Quintino dos Santos und Lucimar Correa für das Vorbild, das Sie für uns sind. Ihr Beitrag gibt dem Zitat von Gorbatschow erst seine Bedeutung: «An den Frieden denken heisst, an die Kinder zu denken.»

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.


Last update 29.01.2022

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