Schweiz-Vatikan: Gemeinsame Geschichte mit vielen Kapiteln

Die diplomatischen Beziehungen zwischen der Schweiz und dem Vatikan waren rund fünfzig Jahre lang unterbrochen, bevor sie 1920 wieder aufgenommen wurden. Während die Schweiz und der Vatikan 2020 den hundertsten Jahrestag der Wiederaufnahme ihrer diplomatischen Beziehungen feierten, ist die Ankündigung der Eröffnung einer ständigen Botschaft beim Heiligen Stuhl, die ab dem 1. Juni 2022 wirksam wird, ein klares Signal in Richtung einer Intensivierung der Zusammenarbeit zwischen den beiden Staaten.

Der 18. Juni 1920 war im bilateralen Verhältnis zwischen der Schweiz und dem Vatikan ein wichtiger Tag: Damals beschloss der Bundesrat, dem Wunsch des Heiligen Stuhls zu entsprechen und diplomatische Beziehungen zwischen der Schweiz und dem Heiligen Stuhl wieder aufzunehmen. Der Antrag dazu kam von Bundesrat Giuseppe Motta. Der Tessiner, der in diesem Jahr auch Bundespräsident war, nahm am 8. November 1920 in Bern das Beglaubigungsschreiben des Nuntius entgegen. Somit endete an diesem Tag ein fast 50-jähriger Unterbruch der diplomatischen Beziehungen.

Unterbrechung der diplomatischen Beziehungen

Hintergrund der Unstimmigkeiten war die scharfe Kritik, die Papst Pius IX. 1873 am Kulturkampf in der Schweiz geübt hatte. Als Reaktion brach der Bundesrat die diplomatischen Beziehungen ab. Allerdings waren die Kontakte auch zwischen 1873 und 1920 nie vollständig unterbrochen. Auf informeller Ebene wurden sie weitergeführt, schreibt der Historiker Lorenzo Planzi, der in seinem Buch Der Papst und der Bundesrat die Phase zwischen Abbruch und Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen erforscht hat.

Cover des Buchs «Der Papst und der Bundesrat» von Lorenzo Planzi.
Der Historiker Lorenzo Planzi beschreibt in seinem Buch «Der Papst und der Bundesrat» die Phase vom Abbruch der diplomatischen Beziehungen zwischen der Schweiz und dem Vatikan bis zu ihrer Wiederaufnahme im Jahr 1920. © Armando Dadò, Editore

Es waren denn auch die jahrhundertealten Gemeinsamkeiten, die die Schweiz und den Heiligen Stuhl einander wieder näherbrachten. Seit 1506 steht die Schweizergarde im Dienst der Päpste und wacht über den Vatikan (vgl. auch Communiqué des Bundesrates vom 11. Dezember 2020). Die Nuntiatur von Luzern, die 1586 gegründet wurde, war die zweite ausländische Vertretung auf Schweizer Boden überhaupt (nach der Vertretung Frankreichs im Kanton Solothurn).

Humanitäre Zusammenarbeit

Unmittelbar vor 1920 waren es aber vor allem humanitäre Aktionen, die der Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen den Boden bereiteten. So unterstützte der Vatikan während des 1. Weltkriegs die Schweiz bei ihrem Versuch, schwer verletzte Soldaten zwischen Deutschland und Frankreich auszutauschen. Ausserdem hat sich der Vatikan dafür eingesetzt, dass kranke und verletzte Soldaten auf neutralem Gebiet gepflegt werden konnten – namentlich in der Schweiz.

Bild von Bundesrat Giuseppe Motta, auf dessen Initiative der Bundesrat 1920 die Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen der Schweiz zum Vatikan beschloss.
Auf Initiative von Bundespräsident Giuseppe Motta beschloss der Bundesrat 1920 die Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen der Schweiz zum Vatikan. © Keystone

Diese Zusammenarbeit während des Krieges war ausschlaggebend für die Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen der Schweiz zum Vatikan. «Die Beziehungen zu den päpstlichen Delegierten und damit zum Vatikan gestalteten sich in der Kriegszeit durchaus erfreulich und es ist ohne Zweifel der Wunsch des Heiligen Stuhles, diese de facto bestehenden Beziehungen in offizielle umgewandelt zu sehen», steht im Protokoll der Bundesratssitzung vom Juni 1920. Als am 8. November 1920 der neue Nuntius Luigi Maglione Bundespräsident Giuseppe Motta sein Beglaubigungsschreiben überreichte, lobte er die Schweiz als ein Land, das «deutsche Reflexion, französischen Geist und italienisches Feingefühl» vereine. 

Bundesrat Cassis sitzt mit Kardinal Pietro Parolin auf einem Sofa und unterhält sich mit ihm.
Bei seinem Treffen mit Kardinal Pietro Parolin am Rande der UNO-Generalversammlung in New York im September 2019 sprach Bundesrat Ignazio Cassis auch über den 100-Jahre-Jubiläum der Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Schweiz und dem Vatikan. © EDA

Jubiläumsanlass geplant

Zum 100. Jahrestag der Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen war ein offizielles Treffen von Bundesrat Ignazio Cassis und dem Staatssekretär des Vatikans, Kardinal Pietro Parolin, in Bern geplant. Ein Anlass, über den Bundesrat Cassis und Kardinal Parolin bereits im September 2019 am Rande der UNO-Generalversammlung in New York gesprochen hatten. Vorgesehen war, dass beide nach den offiziellen Gesprächen in Fribourg eine Konferenz über « Suisse et Saint-Siège: une histoire dense, du Moyen-Age à l’engagement commun pour la paix » eröffnen. Bei diesem Anlass wäre auch das Buch von Lorenzo Planzi vorgestellt worden. Wegen der COVID-19- Pandemie musste dieser Anlass verschoben werden. 

Bundesrat Cassis: «Neues Kapitel aufschlagen»

Nichtsdestotrotz gilt, dass die diplomatischen Beziehungen zwischen der Schweiz und dem Vatikan 100 Jahre nach ihrer Wiederaufnahme sehr gut sind. Mehr noch: «Ich bin der Meinung: Es ist an der Zeit, ein neues Kapitel zwischen der Schweiz und dem Heiligen Stuhl aufzuschlagen», sagte Bundesrat Cassis Ende Oktober 2020 in einem Interview mit kath.ch. Für den Vorsteher des EDA, der im vergangenen Jahr im Vatikan von Papst Franziskus empfangen wurde, könnte dieses neue Kapitel in einer engeren Zusammenarbeit in verschiedenen Bereichen bestehen.

Papst Franziskus begrüsst Bundesrat Ignazio Cassis im Vatikan
Am 4. Mai 2019 wurde Bundesrat Ignazio Cassis im Vatikan von Papst Franziskus zu einer Privataudienz empfangen. © Keystone/EPA (Vatican Media Handout)

Papst Franziskus empfängt Bundesrat Ignazio Cassis im Vatikan

Die Schweiz und der Heilige Stuhl hätten in gewissen Bereichen ähnliche Werte und Interessen, so der Vorsteher des EDA. «Das beginnt bei der Schweizergarde und geht bis hin zum Kampf gegen die Todesstrafe.» Bei allen Gemeinsamkeiten gebe es aber auch Unterschiede. Zum Beispiel vertrete der Vatikan eine konservative Position mit Blick auf das Familienbild. «Das sehen wir anders», sagte Bundesrat Cassis im Interview mit kath.ch.

Schweizer Interessen mittels Seitenakkreditierung vertreten

1991 ernannte der Bundesrat einen Botschafter mit Sonderauftrag und 2004 einen bevollmächtigten Botschafter, womit die Nichtreziprozität der diplomatischen Beziehungen beendet wurde. Später beschloss der Bundesrat, die diplomatischen Beziehungen zum Vatikan über die sogenannten Sekundärakkreditierungen zu verwalten. Das bedeutet, dass der Schweizer Botschafter, der für die Beziehungen mit dem Heiligen Stuhl zuständig ist, in einem anderen Land wohnt. Seit 2014 und bis zur Eröffnung der Schweizer Botschaft beim Heiligen Stuhl im Jahr 2022 ist der Schweizer Botschafter in Slowenien für die Aufrechterhaltung der Kontakte mit dem Vatikan zuständig.

Der Sitz der Botschaft beim Heiligen Stuhl.
Die neue Botschaft soll in den nächsten Monaten operativ sein. © EDA

Die Schweiz eröffnet eine Botschaft im Vatikan

In seiner Sitzung vom 1. Oktober 2021 beschloss der Bundesrat, die Botschaft der Schweiz beim Heiligen Stuhl in Rom zu eröffnen. Er kommt zu diesem Schluss, um auf die seit mehreren Jahren festgestellte Zunahme der diplomatischen Aufgaben zu reagieren. Das Projekt zielt darauf ab, das Potenzial der bilateralen Zusammenarbeit in prioritären Bereichen der Aussenpolitik des Bundes besser auszuschöpfen. Es ist vorgesehen, dass die Schweizer Botschaft beim Heiligen Stuhl auch für die diplomatischen Beziehungen mit Malta und San Marino zuständig sein wird. Am 5. Juni 2022, anlässlich des traditionellen Besuchs des Bundespräsidenten an der Vereidigungszeremonie der neuen päpstlichen Schweizergarde, eröffnet Bundesrat Ignacio Cassis, Vorsteher des EDA, zusammen mit Monsignore Paul Richard Gallagher, Sekretär für die Beziehungen zu den Staaten im Staatssekretariat des Heiligen Stuhls, symbolisch die Räumlichkeiten der neuen Botschaft.

Vertiefung der bilateralen Zusammenarbeit

Die Einrichtung der neuen Schweizer Botschaft in Rom ermöglicht es, das Potenzial der Zusammenarbeit zwischen dem Bund und dem Heiligen Stuhl im Bereich der gemeinsamen aussenpolitischen Schwerpunkte zu vertiefen und zu konkretisieren. Diese umfassen die Friedensförderung oder auch die nachhaltige Entwicklung, Themen, die im Zentrum der aussenpolitischen Strategie 2020-2023 des Bundesrates stehen. Die Präsenz einer diplomatischen Vertretung vor Ort ermöglicht zudem einen regelmässigeren Dialog mit dem Heiligen Stuhl über innenpolitische Themen, die für die bilateralen Beziehungen von Bedeutung sind.