Tanya Mihaylova’s Antwort kommt spontan: Was sie am Schweizer Modell am meisten beeindrucke sei, dass die Schweizer Berufsbildung einen sehr guten Ruf habe und deshalb stabile zwei Drittel der Schweizer Schulabgängerinnen und Schulabgänger anziehe. Erst jetzt verstehe sie, die Stellvertretende Bildungsministerin, dass eine Berufsausbildung die beste soziale Versicherung sei, die man hierzulande einem Jugendlichen geben könne. Sie anerkennt die bedeutende Rolle, die qualitativ gut ausgebildete Berufsfachleute in den Firmen haben. In Bulgarien ist die Situation anders. Berufsbildung geniesst da alles andere als einen guten Ruf; sie gilt als deutlich zweitbeste Lösung nach der Universität für die Karriere und ist demensprechend wenig gefragt. Und dies, obwohl das Land einen Mangel an qualifizierten Arbeitskräften hat.
Gerade deswegen wird die Praxis nun angepasst: 2018 hat Bulgarien ein Gesetzespaket verabschiedet, das die entscheidenden Weichen für eine praxisorientierte Ausbildung stellt. Die Privatwirtschaft soll sich aktiv beteiligen, damit die Lehrlinge die Kompetenzen erlernen, welche die Wirtschaft und der Markt brauchen. Bis dahin fand die Berufsbildung ausschliesslich in Schulen statt, ohne jeglichen Kontakt zur Praxis und ohne Lehrzeit in einem Betrieb. Das neue, duale Modell ist stark vom Schweizer Berufsbildungsmodell inspiriert. Die Reform wird von der Schweiz und Bulgarien im Rahmen des «Schweizerischen Erweiterungsbeitrags» finanziert. Das Schweizer Vorbild ist auch der Grund, weshalb die von der Stellvertretenden Ministerin geleitete Delegation aus Bulgarien mit Vertreterinnen von Branchenverbänden und Berufsschulen in die Schweiz kam und Unternehmen, Berufsschulen und Branchenverbände besuchte.
Tanya Mihaylova ist optimistisch, denn die gestartete Reform zeigt erste Früchte: 76% der Absolventinnen und Absolventen aus den überarbeiteten Berufslehrgängen fanden eine Anstellung, die restlichen 24% entschieden sich, ein Hochschulstudium anzuhängen. Über 170 Firmen (davon 80% ausländische Firmen) sind aktiv involviert in die Erarbeitung von Lehrplänen oder investieren gar in die Weiterbildung von Lehrpersonen sowie in Werkstätten der Schulen.
Das von der Abwanderung hart getroffene Land braucht dringend qualifizierte, marktorientierte Fachkräfte, um den Firmen mit Standort Bulgarien gute Rahmenbedingungen zu bieten. Nicht zuletzt darum offeriert das Modell der Schweiz sowohl den Jugendlichen, dem Staat wie den Unternehmen eine aussichtsreichere Zukunft in Bulgarien.