94 Tonnen Hilfsgüter für notleidende Bevölkerung in Venezuela
Die soziale, wirtschaftliche und politische Situation Venezuelas verschlechtert sich seit Jahren. COVID-19 verschärft die bereits prekäre humanitäre Lage der Bevölkerung weiter. Im Interview erklärt Manuel Bessler, Chef der Humanitären Hilfe, wie die Schweiz auf Ersuchen von UNO-Organisationen, NGOs und des IKRK einen Hilfsgütertransport organisiert hat. Die Hilfsgüter haben Caracas am 19. Juni erreicht und sollen über einer Millionen Menschen Linderung bringen.
COVID-19 verschärft die Situation der venezolanischen Bevölkerung
Die wirtschaftliche und politische Situation in Venezuela verschlechtert sich zunehmend. Inflation, Mangel an Nahrungsmitteln und medizinscher Versorgung, der Rückgang des Angebots und der Qualität sozialer Dienstleistungen führen zu Armut der Bevölkerung und einer massiven Auswanderung. COVID-19 verschärft die humanitäre Situation im südamerikanischen Staat weiter. Rund 7 Millionen Menschen benötigen in Venezuela humanitäre Hilfe.
Schätzungen zufolge haben etwa 9.3 Millionen Menschen nur spärlichen oder keinen Zugang zu Nahrungsmitteln. Sauberes Wasser ist in Venezuela ebenfalls Mangelware und ein ernstes Problem – vor allem im Kontext von COVID-19. Für die Eindämmung der Ausbreitung des neuen Coronavirus sind Wasser und funktionierende sanitäre Einrichtungen zentral, um grundlegende Hygienemassnahmen umsetzen zu können. Die Pandemie hat nicht nur Auswirkungen auf die Gesundheit der Bevölkerung, sondern verschlechtert auch tiefer liegende gesellschaftliche Probleme.
Schweiz chartert Jumbo-Jet für 94 Tonnen Hilfsgüter
Weil sich die Situation in Venezuela infolge des Coronavirus rapid verschlechtert hat, hat das EDA im Auftrag mehrerer UNO-Organisationen, NGOs und das IKRK Hilfsgüter nach Venezuela geliefert. 94 Tonnen humanitäres Material der ersuchenden Organisationen haben Caracas am 19. Juni auf dem Luftweg erreicht. Die Fracht besteht grösstenteils aus medizinischen Gütern, wie etwa persönliche COVID-Schutzausrüstungen, Medikamente, Nothilfe-Material und Hygieneartikel, aber auch Utensilien zur Trinkwasseraufbereitung. Mehr als eine Million Menschen profitieren von dieser Aktion. Die Kosten des Fluges in Höhe von 1,1 Millionen CHF, den die Schweiz gechartert hat, werden durch das bestehende Budget der Humanitären Hilfe finanziert. Die Schweiz spielt bei diesem Transport eine entscheidende Rolle wie Manuel Bessler, Chef der Humanitären Hilfe des Bundes, im Interview erklärt.
Wie unterschiedet sich dieser Flug von anderen Hilfsaktionen der Humanitären Hilfe?
Das Spezielle an dieser Aktion der Humanitären Hilfe der Schweiz ist, dass wir hier die Rolle des «Lieferanten» für medizinische Hilfsgüter übernommen haben, die in Venezuela dringend benötigt werden. Neun verschiedene internationale und auch schweizerische humanitäre Akteure haben die Humanitäre Hilfe der Schweiz angefragt, ob wir bei der Lieferung von vorwiegend medizinischen Hilfsgütern aus Europa nach Venezuela behilflich sein könnten. Unserem humanitären Mandat entsprechend haben wir diese logistisch anspruchsvolle Aktion umgesetzt – natürlich in enger Absprache und detaillierter Koordination mit den Partnerorganisationen, unserer Botschaft in Caracas und der Charterfirma, von der wir den Jumbo-Jet für den Transport gemietet haben.
Wie wird der Flug konkret durchgeführt und welcher logistische Aufwand steckt dahinter?
Zuerst mussten prüfen, ob wir den Auftrag überhaupt durchführen können: sind die anfragenden humanitären Akteure in Venezuela überhaupt zugelassen und können sie dort arbeiten? Um welche Hilfsgüter, die nach Venezuela transportiert werden sollten, handelt es sich? Entsprechen diese den Bedürfnissen vor Ort, sind sie in Venezuela zugelassen und dürfen sie dort eingeführt werden? Als diese Fragen geklärt waren, mussten wir eine Charterfirma ausfindig machen, die Cargo-Flugzeuge mit einem Fassungsvermögen von mindestens 100 Tonnen anbietet und bereit ist, von Zürich nach Venezuela zu fliegen.
Die allgemeine Situation in Venezuela ist angespannt und sehr politisiert. Auch haben verschiedene Länder Sanktionen gegen Venezuela verhängt, die zwar humanitäre Hilfe zulassen, aber zusätzliche Abklärungen erforderten. Weiter mussten wir alle nötigen Bewilligungen für unseren Hilfsgüterflug von den venezolanischen Behörden beschaffen: Hier ging es um Überflug- und Landerechte, Einfuhrbewilligungen und Zollabfertigungen.
Für uns zwingend ist die Begleitung des Hilfsgüterfluges durch eigene Logistiker aus dem Schweizerischen Korps für Humanitäre Hilfe (SKH). Das heisst wir haben aus unserem Pool im SKH ein dreiköpfiges Team rekrutiert, dessen Mitglieder für diese Zeit verfügbar sind, die nötige Erfahrung haben und Spanisch sprechen. Die COVID-19-Krise kam auch bei dieser Aktion als ein zusätzliches Hindernis hinzu: Die Flugzeugcrew und unsere SKH Logistiker, die den Flug begleiten, benötigen eine Bescheinigung, dass sie COVID-19-negativ sind. Dieser Test darf bei Ankunft in Caracas nicht älter als 48 Stunden sein. Diese Aktion der Humanitären Hilfe ist ein recht kompliziertes Puzzle, bei dem alle Teile nicht nur zusammenpassen, sondern auch noch zum rechten Zeitpunkt verfügbar sein müssen.
Warum führt die Schweiz diesen Flug durch?
Im Zentrum jeder humanitären Aktion stehen die Bedürfnisse der betroffenen Bevölkerung. In einem ersten Schritt nehmen wir deshalb immer eine Beurteilung der Bedürfnislage vor Ort vor. Dann beurteilen wir den Mehrwert, den die Humanitäre Hilfe der Schweiz bei der Bewältigung dieser Bedürfnisse erbringen kann. Und schliesslich haben wir auch die Schweizer Interessen bei einer solchen Aktion im Blickfeld.
Die humanitären Bedürfnisse in Venezuela, welche die COVID-Pandemie zusätzlich verschärft hat, sind ausgewiesen. Dies bestätigt auch unsere Botschaft vor Ort. In Venezuela sind mehr als 7 Millionen Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen. Mit der Hilfe in Venezuela kann auch der Druck auf die Nachbarländer verringert werden, in die seit 2015 bereits mehr als 5 Millionen Menschen geflüchtet sind.
Für eine solche Aktion braucht es einen professionellen, erfahrenen und international anerkannten und respektierten humanitären Akteur. Die Schweiz erbringt diesen Mehrwert. Wir haben eine weltweit anerkannte humanitäre Tradition und Erfahrung, wir sind ein respektierter und glaubwürdiger humanitärer Akteur und wir haben keine politische Agenda bei solchen Aktionen. Auch das Schweizer Interesse ist bei dieser Aktion klar gegeben: es liegt in der weltweiten Bekämpfung von COVID-19 und, unserer humanitären Tradition folgend, bei der Unterstützung zugunsten der notleidenden Zivilbevölkerung.
Die Schweiz federt weltweit die Folgen von COVID-19 ab
Seit 2017 hat die Humanitäre Hilfe der DEZA 24 Millionen CHF zur Linderung der Not in Venezuela bereitgestellt. Für das Jahr 2020 plant sie wegen COVID-19 zusätzliche Ausgaben von 12 Millionen CHF zur Deckung des humanitären Bedarfs. Der Hilfsgütertransport nach Venezuela ist ein Teil des Engagements der Schweiz mit welchem sie die Folgen von COVID-19 weltweit abfedert. Entwicklungsländer trifft die Pandemie besonders hart. Die COVID-Pandemie ist nicht nur eine Gesundheitskrise. Sie hat auch schwerwiegende wirtschaftliche, finanzielle und soziale Auswirkungen – speziell in diesen Ländern. Das EDA hat rasch Massnahmen ergriffen. So haben die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) und die Abteilung Menschliche Sicherheit (AMS) laufende Programme angepasst und Gelder zur Verfügung gestellt.
Der gute Ruf der Schweiz im Ausland beruht unter anderem auf ihrer humanitären Tradition. Ihre aussenpolitische Strategie sieht vor, dass die Schweiz bei Krisen, in bewaffneten Konflikten und während Katastrophen Hilfsaufträge unparteiisch und solidarisch wahrnimmt. Die Bedürfnisse der Menschen stehen im Zentrum; ihre Sicherheit, ihre Würde und ihre Rechte sollen garantiert werden.
Die Strategie der internationalen Zusammenarbeit der Schweiz, die auf der aussenpolitischen Strategie basiert, legt mit Ausnahme der Klimafinanzierung keine fixe Verteilung der Mittel fest. Dadurch ist es möglich, gezielt auf die aktuellen Herausforderungen in Entwicklungsländern zu reagieren.