Winston Churchill: aus einer Künstlerbeziehung wird Aussenpolitik
Selbstbewusst, weltoffen und kreativ: In seiner Ansprache anlässlich des Churchill Symposiums wirft Bundesrat Ignazio Cassis einen Blick auf die Rolle der Schweiz in Europa und die spezielle Beziehung von Winston Churchill zu diesem Land. Dabei stellt sich zwangsläufig die Frage: Was hat ein Unternehmer aus Urdorf mit der farbenfrohen Geschichte der Schweizer Aussenpolitik zu tun?
Der Besuch 1946 sollte die einzige Reise von Winston Churchill in die Schweiz bleiben. Nichts desto trotz blieb der bekannte Politiker dem Land auf ewig eng verbunden – nicht zuletzt dank seinem Schweizer Freund Willy Sax. Bild: Zürich, 1946. © Keystone
Als vor bald 75 Jahren mit Winston Churchill eine der schillerndsten Persönlichkeiten der modernen Weltgeschichte hier stand – damals war die Welt noch eine andere. 1946. Eine Zeit, geprägt von den Bildern zweier noch nicht weit zurückliegender Weltkriege und einem Europa in Trümmern. Was soll aus diesem Kontinent werden? Was ist Europa? Wer sind wir?
Es sind Fragen auf der Suche nach einer gemeinsamen Identität. Fragen, die heute so aktuell sind wie damals. Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist mir eine grosse Ehre, heute das Churchill Europe Symposium eröffnen zu dürfen. Heute, 2021 – in einer Zeit, die von der Realität von damals nicht weiter entfernt sein könnte und ihr gleichzeitig so ähnlich ist. Auch heute erwacht Europa langsam aus einer Schockstarre – Stillstand nicht wegen eines Krieges, sondern wegen eines globalen Virus. Eine Wirtschaft, die sich erst langsam zu erholen beginnt, und Menschen gefangen zwischen dem Drang nach mehr individueller Freiheit, nationaler Souveränität und der Frage nach dem europäischen Gemeinschaftssinn.
Schweiz und UK: zwischen nationaler Souveränität und europäischer Gemeinschaft
Winston Churchills Interesse an der Zukunft Europas, sein Aufruf zur Gründung einer Art Vereinigte Staaten von Europa, die Suche nach einer gemeinsamen Identität vereint mit nationalem Stolz – diese Themen sind heute so aktuell wie damals. Das gilt mit Blick auf den Austritt Grossbritanniens aus der EU genauso wie für die Diskussionen rund um die bilateralen Beziehungen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union.
Und auch wenn der Brexit-Deal und das Schweizer Rahmenabkommen nicht miteinander vergleichbar sind, so ist es doch interessant, dass die politische Dreiecksbeziehung Schweiz–EU–UK immer wieder eine zentrale Rolle einnimmt, wenn es darum geht, die Zukunft Europas zu malen. Nicht ohne Grund hielt Winston Churchill seine berühmte Europa-Rede hier in Zürich. Auch wenn dieser Grund weit weniger weltpolitisch war, als man vielleicht meinen könnte.
Malen als therapeutische Verarbeitung politischer Niederlagen
Dass Winston Churchill am 19. September 1946 nach Zürich kam, wo er seine berühmte Europa-Rede hielt, lag nicht etwa – wie man bei einem Staatsmann seiner Klasse meinen könnte – an einer offiziellen Einladung des Bundesrates. Nein, Churchill kam auf private Initiative. Am Ursprung seiner Reise waren persönliche Beziehungen und die unbändige Malleidenschaft des Kriegspremiers. Ja, Sie haben richtig verstanden: seine Malleidenschaft. Churchill war ein begeisterter und vor allem durchaus begabter Maler, der praktisch seine ganze Freizeit vor der Leinwand verbrachte. Eine Leidenschaft, die er der Schweiz zu verdanken hatte. Denn Churchill wäre wohl weder Maler geworden noch 1946 hier in Zürich aufgetreten, wenn es seine Schweizer Künstlerfreunde nicht gegeben hätte. Aber der Reihe nach.
Als Maler war Churchill ein Spätberufener. Er begann erst mit 40 Jahren, mit Farbe und Pinsel zu experimentieren. In einer Zeit, die er selbst als seine «darkest hour» bezeichnete. Nach einer gescheiterten Offensive der Alliierten auf der Halbinsel Gallipoli während des Ersten Weltkrieges musste Churchill als Marineminister zurücktreten. Das stürzte den Vollblutpolitiker und militärischen Draufgänger in eine existenzielle Krise. Bloss noch Zuschauer der Welttragödie zu sein, das hielt er nicht aus. Churchill griff aus Verzweiflung und Wut kurzerhand zum Pinsel.
Politik und Kunst: aus einem Witz wird eine lebenslange Freundschaft
Seinen ersten und wichtigsten Lehrer traf Churchill 1915 in Paris – einen Schweizer. Der nach Frankreich ausgewanderte Winterthurer Charles Montag hatte sich als Maler einen Namen gemacht, aber noch viel bekannter wurde er als vehementer Verfechter der französischen Impressionisten. Gleich beim ersten Treffen mit Churchill kam es beinahe zum Eklat. Churchill wollte von Montag wissen, was der Profi von seinen Gemälden hielt. Darauf entgegnete Montag auf Französisch: «Si vous faites votre politique comme votre peinture, l’Europe est fichue» – übersetzt: «Wenn Sie so politisieren, wie Sie malen, dann ist Europa verloren.»
Das hat gesessen. Der sonst so wortgewandte britische Heisssporn wusste nicht so recht, ob er den schlagfertigen Schweizer vor die Tür setzen oder lachen sollte. Zum Glück entschied er sich für Letzteres. Schliesslich – so Churchill – sei er extra nach Paris gekommen, um zwei Personen zu treffen: Raymond Poincaré, den französischen Staatspräsidenten, und ihn, Charles Montag.
Mit Victory-Zeichen und Pokerface im offenen Cabriolet
Es war der Beginn einer wunderbaren Freundschaft und geteilter Malleidenschaft. Eine Leidenschaft, die Churchill schliesslich drei Jahrzehnte und einen Weltkrieg später in die Schweiz führen sollte. Denn was den damals bekannten britischen Staatsmann im September 1946 nach Zürich lockte, war eben nicht die hohe Politik und auch nicht der ihm kredenzte Zürcher Landwein, der ihm übrigens im wahrsten Sinne des Wortes sauer aufstiess – nein, was ihn 1946 in die Schweiz zog, waren die leuchtenden Farben von Willy Sax. Dieser mittelständische Unternehmer führte in Urdorf bei Zürich den Familienbetrieb Sax-Farben AG. Der gute Ruf des kleinen Unternehmens war bis nach England gedrungen, und seine Farben waren bis in die Stuben von Winston Churchill gelangt. Dieser wollte endlich den Mann kennenlernen, der ihm den so begehrten Stoff für seine ästhetische Passion lieferte.
Noch am selben Tag, an dem er abends hier in Zürich seine bekannte Rede zu Europa halten sollte, bestellte Churchill Willy Sax zu sich ins Hotel Dolder. Der Schweizer Farbenfabrikant war ihm auf Anhieb sympathisch. Man verabredete sich gleich für den nächsten Tag erneut – Sax sollte Churchill in der Zürcher Innenstand seine Farben und deren sachgemässe Anwendung zeigen. Für das zweite Treffen mit seinem neuen Schweizer Freund liess Churchill sogar den Rückflug nach London verschieben. Das Treffen müsse aber unbedingt geheim bleiben, hiess es, damit es keinen Volksauflauf gebe. Das Treffen kam zustande, die Sache mit der Geheimhaltung hingegen ging ziemlich schief. Als Churchill das Farbengeschäft verliess, hatte sich davor eine riesige Menschenmenge gebildet. Churchill, ganz der Showman, stieg mit Pokerface in ein offenes Cabriolet, machte das Victory-Zeichen und rauschte davon.
Gemeinsame Malferien, ein eigener Farbton und Strümpfe für die Frau
In die Schweiz kehrte Churchill danach nie mehr zurück. Seine Verbundenheit zur Schweiz, insbesondere zu Willy Sax, blieb hingegen bestehen, und die beiden Freunde sahen sich fortan regelmässig. Sax besuchte seinen Malerkollegen mehrfach auf Schloss Chartwell. Und auch als Churchill zwischen 1951 und 1955 erneut Premierminister war und in der berühmten Downing Street 10 residierte, war sein Schweizer Freund gern gesehener Gast.
Über die Jahre schrieben sich die beiden weit über hundert Briefe und Telegramme. Oft gingen auch Geschenkpakete zwischen Urdorf und London hin und her. So sandte Sax beispielsweise Schinken, Schnaps, Knorr-Suppen, Schweizer Schokolade – und, als Dernier Cri, Nylonstrümpfe für Churchills Frau. Was die beiden Herren aber vor allem verband, waren die gemeinsamen Malferien an der Côte d’Azur. Der Maler Churchill war verzaubert vom mediterranen Licht, und Fabrikant Sax brachte die Farben mit, um es in all seiner Pracht einzufangen. Auf Wunsch des Premiers kreierte er sogar einen eigenen Farbton für seinen britischen Freund. Ein Himmelblau – das Churchill-Blau.
Aus einer Künstlerfreundschaft wird politische Diplomatie
Diese – wie soll ich es nennen: freundschaftliche Malerdiplomatie – umfasste weit mehr als die gemeinsame Begeisterung für die Kunst. Kein anderer Schweizer pflegte engere Beziehungen zu Winston Churchill als Willy Sax. Dank seiner persönlichen Kontakte zu Churchill wuchs der Schweizer Unternehmer immer mehr in die Rolle eines politischen Vermittlers hinein. Sax wurde zu einer Art Relaisstation zwischen Churchill und der Schweiz. Sozusagen ein Privatbotschafter im Interesse des friedlichen Austauschs zwischen den beiden Ländern.
So reiste Sax im Frühjahr 1956 mit dem Zürcher Stadtpräsidenten Emil Landolt nach London. Die Stadt Zürich wollte eine Ausstellung mit Gemälden von Churchill organisieren, und Sax sollte Landolt Zugang zum Maestro verschaffen. Churchill sagte das Treffen aber kurzerhand ab. Er kenne diesen Landolt nicht und könne schliesslich nicht jeden Stadtpräsidenten der Welt empfangen. Sax hingegen war ihm hochwillkommen. Er genoss es, mit seinem Schweizer Freund Steak and Kidney Pie zu essen, Whisky zu trinken und eine Zigarre zu rauchen – während sich der «Stadtpräsident aus Zürich» draussen die Füsse vertrat.
Schweizer Kollegialregierung für die Bevölkerung, nicht für Staatsbesuche
Aber nicht immer scheiterten Sax’ Verbindungsversuche an der britischen Seite. Ab und an standen ihm auch Schweizer Gepflogenheiten im Weg. So unternahm Sax 1955 einen weiteren privat-diplomatischen Anlauf – dieses Mal auf höchster Ebene. Sax traf in Bern Bundespräsident und Aussenminister Max Petitpierre. Sein Plan: Petitpierre, den Churchill bei seinem Besuch in der Schweiz neun Jahre zuvor als «first-class man» bezeichnet hatte, sollte den Premier endlich wiedersehen und die beiden Freunde auf ihrer Malreise begleiten. Churchill liess dem Bundespräsidenten – via Sax versteht sich – seine besten Grüsse ausrichten und mitteilen, er freue sich auf die baldige Zusammenkunft.
Zu diesem Treffen kam es dann aber nicht. Grund: die Schweizer Politik des Kollektivs. So teilte Petitpierre Sax Folgendes mit: «Es wäre mir eine Freude, Sir Winston Churchill wiederzusehen, und ich würde gerne nach Monte Carlo fahren, um ihn zu besuchen. Leider wird mir dies jedoch in diesem Jahr nicht möglich sein, da der Brauch will, dass der Bundespräsident die Schweiz während des Präsidialjahres nicht verlässt.» Mit dieser zurückhaltenden Reisepolitik demonstrierte Bundespräsident Petitpierre, dass die Schweiz kein eigentliches Staatsoberhaupt kennt. Er verstand seine Rolle als Primus inter Pares im siebenköpfigen Regierungsgremium und war im wahrsten Sinne des Wortes für die Bürgerinnen und Bürger da. Und die sind nun einmal wichtiger als Staatsmann und Künstler Winston Churchill.
Klein, aber oho: was die Schweiz und Willy Sax verbindet
Diese und andere wunderbare Episoden über die wenig bekannten Swiss Connections des britischen Premierministers habe ich dem Buch «Champagner mit Churchill» entnommen – geschrieben vom Schweizer Historiker Philipp Gut. Die darin erzählten Geschichten scheinen mir nicht nur historisch interessant und vor allem ziemlich amüsant zu sein. Ich sehe darin auch einen Spiegel der schweizerischen Aussenpolitik. Die Vermittlerdienste von Privatmann Willy Sax – entsprechen sie im internationalen Kontext nicht auch ein wenig der Vermittlerrolle der Schweiz? Als unabhängiger, neutraler Kleinstaat, der auf Recht statt Macht setzt, sind wir prädestiniert dafür, in Konflikten zu vermitteln. Ganz in der Tradition der Guten Dienste.
Das ist jetzt keine Bewerbung für den Posten von Michel Barnier, dem ich gleich das Wort übergeben werde. Und ich will damit auch nicht sagen, dass sich die EU und das Vereinigte Königreich im Kriegszustand befinden. Gott behüte. Es ist vielmehr ein Plädoyer für eine Schweizer Aussenpolitik, die selbstbewusst und selbstlos zugleich auftritt. Wie der erstaunliche Kleinunternehmer Willy Sax. Er hatte keine Berührungsängste und keine Minderwertigkeitskomplexe gegenüber einem welthistorisch so bedeutenden Staatsmann wie Winston Churchill. Er blieb bescheiden und bodenständig und setzte sich als Botengänger und Vermittler immer wieder für die Anliegen anderer ein. Was einem Willy Sax recht war, das soll der Schweiz nur billig sein.
Freiheit lieben und die Rechte der anderen verteidigen
Winston Churchill sah es übrigens ganz ähnlich. 1946, als er seinen Freund Willy Sax besuchte und hier in Zürich seine berühmte Ansprache zu Europa hielt, betonte er kurz darauf gegenüber dem Bundesrat die für die Schweiz charakteristische Verbindung von Unabhängigkeit und Weltoffenheit. Die Schweiz demonstriere, dass man die Freiheit lieben und trotzdem die Rechte der anderen respektieren und fördern könne.
Treffender als Winston Churchill könnte es auch der heutige Vorsteher des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten nicht formulieren. Diese weltbewusste Souveränität – wie ich sie nenne – bildet überhaupt erst die Voraussetzung für das internationale und humanitäre Engagement der Schweiz. Selbstbewusst, weltoffen und kreativ – lassen Sie uns den Mut haben, die ganze Farbpalette der Weltpolitik zu nutzen. Lassen Sie uns alle ein wenig Willy Sax sein.