«Die Genfer Konventionen sind lebendige Instrumente»
Die Genfer Konventionen vom 12. August 1949 bilden das Fundament des humanitären Völkerrechts. Welche Bilanz zieht die Schweiz 75 Jahre nach der Verabschiedung dieser universell gültigen Regeln? Im Interview nimmt Franz Perrez, Direktor der Direktion für Völkerrecht (DV) des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten, Stellung und erklärt, was die Schweiz zur Um- und Durchsetzung der Konventionen unternimmt.
Ziel der Genfer Konventionen ist es, dem Krieg Grenzen zu setzen, um die Opfer zu schützen. © IKRK
An seinem Schreibtisch im Bundeshaus Nord bringt Franz Perrez es auf den Punkt: Das 75-Jahr-Jubiläum der Genfer Konventionen, die dem Krieg Grenzen setzen sollen, um dessen Opfer zu schützen, ist ein Meilenstein in der Geschichte des humanitären Völkerrechts (HVR). Es bietet Gelegenheit, Bilanz zu ziehen und einen Blick in die Zukunft zu werfen. Der Direktor der DV spricht mit Respekt und Bewunderung über die Errungenschaften von 1949, bleibt aber angesichts der aktuellen Herausforderungen realistisch und pragmatisch.
Welche Bilanz zieht die Schweiz 75 Jahre nach der Verabschiedung der Genfer Konventionen, die den Kern des HVR bilden?
Das 75-Jahr-Jubiläum der Genfer Konventionen findet in einem komplexen und angespannten politischen Kontext statt. Es gibt heute mehr als hundert Konflikte in der Welt. Sie verursachen unvorstellbares menschliches Leid, und die humanitären Krisen häufen sich. Vor diesem Hintergrund sind die Genfer Konventionen aktueller denn je. Sie bilden den stärksten universellen Konsens über die Notwendigkeit, in Kriegszeiten unsere Menschlichkeit zu bewahren. Sie sind also nach wie vor relevant, nützlich und wichtig. Es gibt kein wirksameres Instrument zum Schutz der Opfer von bewaffneten Konflikten.
Trotzdem wird das HVR in bewaffneten Konflikten rund um die Welt immer wieder verletzt, mit inakzeptablen humanitären Folgen. Aus den verschiedenen Konfliktgebieten erreichen uns schreckliche Berichte und Bilder. Dieser Realität dürfen wir uns nicht verschliessen. Der Fokus wird leider oft auf das gelegt, was nicht funktioniert, so dass der Eindruck entstehen kann, dass die Regeln des HVR völlig missachtet werden. Die Genfer Konventionen werden jedoch in vielen Fällen eingehalten, was häufig zu wenig Beachtung findet. Sie werden beispielsweise angewendet, wenn ein Hilfskonvoi nach Verhandlungen die Frontlinien überquert, wenn medizinisches Material geliefert wird oder wenn das IKRK darüber informiert wird, dass eine Person in einer Konfliktsituation gefangen genommen wurde. Das klingt vielleicht banal, ist aber sehr wichtig.
Welches sind die grössten Herausforderungen im Zusammenhang mit den Genfer Konventionen?
Die grösste Herausforderung in Bezug auf die Genfer Konventionen und das HVR im Allgemeinen besteht darin, sicherzustellen, dass die Regeln eingehalten und umgesetzt werden. Verstösse gegen das HVR bedeuten jedoch nicht, dass die Regeln nicht wirksam sind, sondern widerspiegeln die Handlungen der Konfliktparteien.
Bezüglich Einhaltung der Konventionen gibt es Missverständnisse und falsche Vorstellungen. Viele glauben, die Beachtung des HVR sei im Interesse der Gegenpartei. Dies ist falsch und zeugt von kurzfristigem Denken. Nach Beendigung eines Kriegs kann die Rückkehr zum Frieden leichterfallen, wenn das HVR eingehalten wurde. Die Beachtung des HVR ist im Interesse aller Beteiligten und meiner Meinung nach vor allem im Interesse der Partei, die sich an das HVR hält. Einige Akteure glauben auch, dass die Einhaltung des HVR an Bedingungen geknüpft ist, etwa dass sie das HVR nur beachten müssen, wenn sich die Gegenpartei ebenfalls daran hält. Das ist falsch. Das HVR muss auch dann eingehalten werden, wenn der Gegner dagegen verstösst.
Eine weitere Herausforderung sind die teilweise überzogenen Erwartungen schutzbedürftiger Personen an die Genfer Konventionen. Dies ist verständlich, denn sie befinden sich in einer schwierigen Situation. Aber ein Kriegsgefangener oder eine Geisel kann nicht von heute auf morgen freigelassen werden. Ebenso wenig kann das IKRK gegen den Willen der Behörden vor Ort tätig werden oder alle ihm zur Verfügung stehenden Informationen offenlegen, um Zugang zu Gefangenen zu erhalten.
Was können die Staaten tun, um diese Herausforderungen zu bewältigen?
Antizipation, Ausbildung und Prävention sind von zentraler Bedeutung. Die Staaten sollten aktiv eine Kultur der Achtung des HVR fördern, das heute rund hundert Verträge umfasst. Alle sind auf der Grundlage der Genfer Konventionen entstanden. Dies gilt nicht nur in Kriegszeiten, sondern auch in Friedenszeiten und in Zeiten zunehmender Spannungen. Meiner Ansicht nach trägt das Engagement für die Einhaltung des HVR bereits lange vor dem Ausbruch eines Konflikts dazu bei, eine Erwartungshaltung zu etablieren, dass diese Regeln strikt zu beachten sind, sobald es zu Kampfhandlungen kommt.
Die Schweiz ist im Bereich der Prävention und Ausbildung aktiv, aber nicht nur. Können Sie uns konkrete Beispiele für das Engagement der Schweiz zur Umsetzung und Förderung der Genfer Konventionen nennen?
Die Schweiz setzt sich in zweifacher Hinsicht für die Genfer Konventionen ein: Zum einen stellt sie sicher, dass sie selbst die Konventionen auf innerstaatlicher Ebene umsetzt. Zum anderen fördert sie die Umsetzung und Einhaltung der Genfer Konventionen auf internationaler Ebene.
Ein konkretes Beispiel auf nationaler Ebene ist das Interdepartementale Komitee für humanitäres Völkerrecht (HVRK), das der Bundesrat 2009 einsetzte. Es ist für die Koordination von Fragen und Aktivitäten im Bereich des HVR in der Schweiz zuständig. Zudem sorgt es für eine kohärente Umsetzung der Pflichten der Schweiz bezüglich des HVR. Die Schweizer Armeeangehörigen werden in HVR-Fragen geschult. Das HVR ist Bestandteil der Gefechtsübungen, und die Schweizer Armee verfügt auf verschiedenen Stufen (Brigade, Division, Truppenkörper der Spezialkräfte und Armeestab) über Rechtsberaterinnen und Rechtsberater mit einer umfassenden HVR-Ausbildung.
Und auf internationaler Ebene?
Die Achtung, Förderung und Umsetzung des HVR ist ein fester Bestandteil der Schweizer Aussenpolitik. Wir setzen uns zum Beispiel im Rahmen des Engagements der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) des EDA und insbesondere des Schweizerischen Korps für humanitäre Hilfe (SKH) für die Einhaltung und Umsetzung des HVR ein. Das SKH ist der operationelle Arm bei der Umsetzung der Genfer Konventionen durch die Schweiz. Im laufenden Jahr engagiert sich die Schweiz in 20 bewaffneten Konflikten, in denen das HVR anwendbar ist.
Sehr wichtig ist auch der Erfahrungsaustausch, vor allem über die Herausforderungen bei der Umsetzung des HVR. Denn die Genfer Konventionen sind lebendige Instrumente des HVR. Die Schweiz organisiert Treffen von Regierungssachverständigen zu konkreten Fragen des HVR, zu denen wir alle Staaten einladen. Wir haben bereits zwei solche Treffen organisiert. Das erste im Jahr 2020 war dem Schutz der medizinischen Aktivitäten in bewaffneten Konflikten gewidmet und das zweite im Jahr 2023, das in Zusammenarbeit mit dem IKRK durchgeführt wurde, dem Schutz der Umwelt in bewaffneten Konflikten. Am zweiten Treffen nahmen 380 Expertinnen und Experten aus über 120 Ländern teil. Ein weiteres unverzichtbares Forum für den Austausch über die Genfer Konventionen ist die Internationale Rotkreuz- und Rothalbmond-Konferenz in Genf, die im Oktober 2024 zum 34. Mal stattfindet.
Setzt sich die Schweiz auch im UNO-Sicherheitsrat für die Einhaltung der Genfer Konventionen und des HVR ein?
Ja. Der Schutz der Zivilbevölkerung in bewaffneten Konflikten gehört zu den vier thematischen Prioritäten der Schweiz im Rahmen ihres Mandats im UNO-Sicherheitsrat 2023–2024. Im Mai 2024 verabschiedete der Sicherheitsrat eine von der Schweiz eingebrachte Resolution über den Schutz von humanitärem und UNO-Personal in Konfliktgebieten. Die Schweiz setzte sich insbesondere dafür ein, dass die Regeln des HVR in Bezug auf den humanitären Zugang beachtet werden, damit das humanitäre Engagement aufrechterhalten werden kann. Ausserdem unterstützte sie die Umsetzung humanitärer Ausnahmeregelungen in den UNO-Sanktionsregimen. Sie unterstrich den Zusammenhang zwischen den Verstössen gegen das HVR und der Ernährungsunsicherheit und brachte das Thema Schutz wichtiger Infrastrukturen und des Zugangs zu Wasser ein.
Im Übrigen beobachten wir derzeit eine gewisse Relativierung des Völkerrechts – vor allem des HVR – in den Resolutionen und anderen Texten des Sicherheitsrates. Deshalb setzen wir uns in den Verhandlungen dafür ein, dass die Texte und insbesondere die Resolutionen des Sicherheitsrates inhaltlich und redaktionell mit dem HVR vereinbar sind. Dies ist eine sehr wichtige Arbeit, und die Schweiz gehört zu den wenigen Ländern, die in diesem Bereich aktiv sind. Ich habe erst kürzlich positives Feedback zur Arbeit der Schweizer HVR-Expertinnen und -Experten erhalten, die auf die Unterschiede zwischen der Endfassung und der ursprünglichen Version hingewiesen haben.
Die Schweiz unterstützt auch das IKRK ...
Das IKRK ist der wichtigste Partner der Schweiz im Bereich der humanitären Hilfe. Dass die Genfer Konventionen auch 75 Jahre nach ihrer Verabschiedung immer noch dazu beitragen, Leben zu retten, ist zu einem grossen Teil dem mutigen Einsatz der humanitären Akteure zu verdanken, zu denen auch das IKRK gehört. Im Rahmen der Genfer Konventionen wurde das IKRK von der Staatengemeinschaft beauftragt, über die Anwendung des HVR zu wachen.
Damit kommt dem IKRK als neutraler, unabhängiger und unparteiischer Akteur eine wichtige Rolle zu. Das IKRK wird in Notsituationen aktiv und setzt sich auch für die Einhaltung des HVR und seine Überführung in die innerstaatliche Gesetzgebung ein. Die Staaten haben dem IKRK zum Beispiel eine spezifische Rolle bei Gefangenenbesuchen zugewiesen. Die Staatengemeinschaft muss dafür sorgen, dass das IKRK seine Aufgaben wahrnehmen kann.
Der Bundesrat hat an seiner Sitzung vom 26. Juni 2024 beschlossen, dem IKRK für das Jahr 2024 einen ordentlichen Beitrag von 56 Millionen Franken für seine Einsätze in Krisenländern zu gewähren.
Welchen Appell lanciert die Schweiz anlässlich des 75-Jahr-Jubiläums der Genfer Konventionen?
In diesen kritischen Zeiten muss die Einhaltung des HVR zu einer politischen Priorität erklärt werden. Alle Staaten sollten ihr Engagement für die Einhaltung der Genfer Konventionen bekräftigen. Sie müssen ihren Einfluss nutzen, um Verstösse gegen das HVR zu verhindern bzw. zu beenden. Auch auf nationaler Ebene braucht es konkrete Massnahmen. Dazu gehören zum Beispiel die Ratifikation der Zusatzprotokolle, die Ausarbeitung von Gesetzen zur Umsetzung des HVR auf innerstaatlicher Ebene und die Bekanntmachung seiner Regeln bei den Streitkräften und der Zivilbevölkerung.