Vier Sprachen, vier Kulturen – ein Land
In der Schweiz werden vier Landessprachen gesprochen. Diese Mehrsprachigkeit ist ein grosses Potenzial für das Land und die Menschen. Aber: Die sprachliche und kulturelle Vielfalt ist nicht einfach gegeben, sondern muss gepflegt werden. Darauf machen die Tage der Mehrsprachigkeit in dieser Woche wieder aufmerksam.
In der Bundesverfassung werden in Artikel 4 die Landessprachen in der Schweiz genannt: «Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.» © EDA
Wer in Basel auf Gleis 8 in den Zug Richtung Tessin steigt, verlässt in Lugano den treno auf binario 2. Die Reise im tren von Scuol-Tarasp nach Genf beginnt im Unterengadin auf binari 1, einige Stunden später fährt le train in Genève auf voie 2 ein.
Ein Land, vier Sprachen, vier Kulturen. Und doch: ein Land. Das ist nicht selbstverständlich. Das Risiko ist da, dass Sprachen trennen und Sprachgruppen sich abschotten. Es gibt Länder, in denen die Mehrsprachigkeit die Verständigung innerhalb der Gesellschaft erschwert und bestehende Konflikte verstärkt – bis hin zu gewalttätige Auseinandersetzungen.
Nicht so in der Schweiz: «Die Schweiz ist eine Einheit, geschmiedet aus sprachlicher und kultureller Vielfalt, mit Freiheit als verbindendem Wert», sagte Bundesrat Ignazio Cassis unmittelbar nach seiner Wahl in den Bundesrat. Und: Er stelle sich als Schmied zur Verfügung, um das Land noch stärker zusammenzuschmieden. Denn auch ein Schatz wie die Mehrsprachigkeit braucht Pflege.
«Als Angehöriger einer sprachlichen Minderheit weiss ich, wie es ist, bei der Arbeit nicht seine Muttersprache sprechen zu können. Bei den Bundesratssitzungen muss ich Deutsch oder Französisch sprechen, wenn ich will, dass die anderen Bundesräte wirklich alles verstehen, was ich sage (und auch dann ist es nicht immer der Fall!). Wenn ich mit Medien aus der Deutschschweiz oder der Romandie spreche, kann ich nicht die gleiche Genauigkeit haben wie in meiner Muttersprache. Es geht aber nicht nur um die Sprache, denn jede Sprache bringt eine Kultur, eine Weltanschauung, andere Perspektiven mit sich. Allzu oft wird vergessen, dass das Zusammenleben von vier verschiedenen Kulturen innerhalb eines einzigen Landes zwar keine einfache Angelegenheit ist, aber auch eine unglaubliche Chance darstellt.»
Bundesrat Ignazio Cassis am 27. November 2019 in Zürich anlässlich der Tagung an der Universität zur Förderung der italienischen und der rätoromanischen Sprache in der Schweiz.
Mehrsprachigkeit bietet grosses Potenzial
Pflege zum Beispiel, weil die Sprachen in der Schweiz unterschiedlich verteilt sind. Rund 62 Prozent der Menschen in der Schweiz gaben im Jahr 2018 Deutsch oder Schweizerdeutsch als Hauptsprache an. Knapp 23 Prozent sprechen Französisch, 8 Prozent Italienisch oder einen Tessiner bzw. Bündner-italienischen Dialekt.
Der Anteil des Rätoromanischen an den Hauptsprachen in der Schweiz beträgt gemäss dem Bundesamt für Statistik 0,5 Prozent. Angesichts dieser Grössenunterschiede kann rasch vergessen gehen, was Artikel 4 der Bundesverfassung klar stellt: «Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.» Ohne Rangfolge.
Was hilft also, damit die die Sprachenvielfalt nicht zur Quelle von Missverständnissen wird - sondern zu einem Bindemittel der Gesellschaft? Es braucht das richtige Bewusstsein: Für die Situation der Sprachminderheiten. Und dafür, was für ein Potenzial in der Mehrsprachigkeit für ein Land und seine Menschen liegt. Auf dieses Potenzial weisen auch die Tage der Mehrsprachigkeit hin, die in dieser Woche in Bern durchgeführt werden. Aber eben: Die Mehrsprachigkeit braucht Pflege.
«Davo 11 mais ad Antananarivo n’haja chattà üna persuna chi imprenda rumantsch: üna bella pussibiltà per üna baderlada. Rumantsch es mia lingua materna, eir sch’eu tilla n’ha imprais da meis bap. Mincha jada ch’eu sbrat üna cartulina da visita n’haja la pussibiltà da spiegar a’ls malagas cha la Svizra ha 4 linguas naziunalas: sün quellas sun nempé stampadas tuottas quatter. Per mai es quai ün dals fats chi contribuescha all’identità svizra e crea ün’admiraziun da meis contacts. Suvent sun eu il prüm inscunter rumantsch in lur vita.»
Chasper Sarott, Schweizer Botschafter in Madagaskar
Zugang zu anderen Kulturen
Grundsätzlich sind in der Schweiz die Rahmenbedingungen gegeben: eine Sprachenpolitik, die die Mehrsprachigkeit und die Verständigung zwischen den Sprachgemeinschaften fördern will, Institutionen, die sich um die sprachliche Vielfalt bemühen – und: «der Respekt vor anderen Meinungen», wie Bundesrat Cassis im September 2017 unterstrich. Respekt ist die Voraussetzung dafür, dass andere Sichtweisen (buchstäblich!) zur Sprache kommen können. Und damit andere kulturelle Erfahrungen einbringen.
Warum zum Beispiel spricht man im Deutschen von «Lebensgefahr», wenn man im Französischen vor «danger de mort», im Italienischen von «pericolo di morte» und im Rätoromanischen wieder vor «privel da vita» warnt? Wie unterschiedlich die kulturellen Bezugspunkte sind, zeigt sich erst im direkten Austausch. Wer dazu bereit ist, lernt viel – über sein Gegenüber, sein Land, sich selbst.
«Uruguayer/innen nehmen oft Bezug auf ihre europäische Herkunft. Familien- und Ortsnamen zeugen davon – zum Beispiel die Stadt Nueva Helvetia, in welcher noch heute stolz die Schweizer Kantonswappen neben die Haustür gehängt werden. Schweizerdeutsch, meine Muttersprache, spricht man dort jedoch schon lange nicht mehr. Vielleicht liegt dies auch an der sehr unterschiedlichen Aussprache die beiden Idiome. Ich übe mich weiterhin an der Aussprache der verschiedenen «r». Im Gegenzug dürfen Uruguayer/innen gerne «vieräzwänzg» (24) formulieren (versuchen).»
Martina de Kaenel, Lokalangestellte bei der Schweizer Botschaft in Montevideo/Uruguay
Sprachenvielfalt im EDA
Das gilt innerhalb des EDA nicht weniger. Das Departement strebt unter seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern konsequent eine angemessene Sprachenverteilung an. Noch sind die Ziele nicht erreicht, doch nähert sich die Zahl der italophonen Mitarbeitenden allmählich dem angestrebten Wert. Im Departement gilt ausserdem das Prinzip, dass alle Mitarbeitenden in der eigenen Landessprache sprechen können. Sitzungen oder Telefonkonferenzen werden deshalb häufig in mehreren Sprachen geführt.
Für die Mitarbeitenden des Departements gibt es ausserdem Sprachkurse, damit die anderen Landessprachen zumindest passiv verstanden werden. Auf Bundesebene wacht schliesslich die Delegierte des Bundes für Mehrsprachigkeit im Rahmen der Politik zur Förderung der Mehrsprachigkeit über den Vollzug von Sprachengesetz und Sprachenverordnung.
Dem Vorsteher des EDA, Bundesrat Ignazio Cassis, ist das gleichberechtigte Nebeneinander der vier Landessprachen ein persönliches Anliegen. Er unterstreicht das mit Besuchen in allen Landesteilen und einem strukturellen Dialog mit der italienischen Schweiz. Am 28. September 2020 ist wieder ein Treffen mit der Bündner und der Tessiner Regierung geplant.
Zuvor schon, am 24. September 2020 thematisierte er die Mehrsprachigkeit im EDA selbst: Dann traf er die Lernenden des Departements und sprach mit ihnen über Redewendungen, und wie sie je nach Sprache unterschiedliche kulturelle Erfahrungen zum Ausdruck bringen.
Anschliessend nahm Bundesrat Cassis an der Vernissage des Buches «ün viadi e 4 servezzans - 4 piccioni con una fava – D’une pierre 4 coups – 4 Fliegen mit einer Klappe». Das Buch vergleicht Redewendungen miteinander, die in den vier Schweizer Sprachregionen verwendet werden.
«Non solo spaghetti! Sono trascorsi 5 anni da quando sono arrivata in Cina con la mia famiglia. Siamo tutti italofoni, pertanto parlo italiano tutti i giorni e così mi sento sempre a casa. Incontrare in Cina persone che conoscano l'italiano non è facile. La Settimana della lingua italiana nel mondo, desta interesse ma è purtroppo una goccia nel mare. Le occasioni per parlare la mia lingua materna sono quindi in famiglia, con alcuni colleghi e pochi conoscenti. Le affinità tra la cultura italiana e quella cinese sono a mio parere molteplici. Il gusto per il bello, i legami famigliari, l'amore per la buona tavola, e non da ultimo quella per gli spaghetti, accomunano le due culture.»
Daniela Ziliotto, Mitarbeiterin im Schweizerischen Generalkonsulat in Schanghai
Dank vier Landessprachen offen gegen aussen
Ausserdem: Wer im Innern um die Bedeutung der Mehrsprachigkeit weiss, ist auch gegen aussen offen. Mit rund 170 Vertretungen ist die Schweiz in der Welt präsent – in den meisten Ländern werden andere Sprachen gesprochen als die Landessprachen der Schweiz. Der interkulturelle Dialog wird deshalb in der diplomatischen und konsularischen Ausbildung sowie der Ausbildung künftiger Mitarbeitender im Bereich der internationalen Zusammenarbeit bewusst gefördert.
In den Schweizer Vertretungen sind überdies rund 2300 Lokalangestellte tätig – Mitarbeitende, die aus dem Land stammen, in dem die Schweiz vertreten ist. Sie bringen dort ihre Sprache und ihre Kultur ins EDA ein und arbeiten auf diese Weise mit, dass die Verständigung zwischen der Schweiz und ihren Partnerländern funktioniert. Im Interesse der Schweiz!
«Echanger dans ma langue maternelle avec des collègues roumaines et roumains est un privilège. J’ai la chance que de nombreux partenaires s’expriment parfaitement en français. Ces échanges accroissent mon sentiment d’appartenir à une même communauté. La nuance des mots bien comprise enrichit la conversation d’émotions. L’humour est plus facile et il colorie la discussion. Les différences culturelles deviennent des atouts qui nous rapprochent. Et l’intérêt de l’autre de converser dans ma langue maternelle m’apparait comme une faveur, une marque de sa volonté de me comprendre. Des moments que j’affectionne particulièrement.»
Roland Python, Chef des Erweiterungsbüros, Bukarest