«Kolumbien ist auch ein Land der Hoffnung»

Am 10. Dezember 2025 wurde eine digitale Sicherheitskopie der Archive der kolumbianischen Wahrheitskommission an die Schweiz übergeben. Sie dokumentieren Menschenrechtsverletzungen während des bewaffneten Konflikts und enthalten 29'000 von der Wahrheitskommission gesammelte Zeugenaussagen, deren Erhebung vom EDA unterstützt wurde. Ehemaliges Kommissionsmitglied, Leyner Palacios, erzählt im Interview von der Suche nach der Wahrheit.

Ehemaliges Kommissionsmitglied, Leyner Palacios, erzählt im Interview von der Suche nach der Wahrheit.

Ehemaliges Kommissionsmitglied, Leyner Palacios, erzählt im Interview von der Suche nach der Wahrheit. ​© La Silla Vacía

Kolumbien leidet seit sechs Jahrzehnten an einem komplexen bewaffneten Konflikt aufgrund der fortbestehenden Ungleichheit. Seit den 1960er-Jahren entstanden verschiedene Rebellengruppen, wie die «Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia - Ejército del Pueblo (FARC-EP)» oder die «Ejército de Liberación Nacional» (ELN), welche sich bewaffnete Auseinandersetzungen mit den staatlichen Sicherheitskräften und paramilitärischen Gruppen lieferten. Mehr als 10 Millionen Personen wurden Opfer des Konflikts. 

Im Jahr 2016 unterzeichneten die kolumbianische Regierung und die FARC-Rebellen ein Friedensabkommen.

Friedensabkommen 2016

Der kolumbianische Kongress ratifizierte am 30. November 2016 eine überarbeite Version des Friedensabkommens, welche die Beseitigung von Konfliktursachen beinhaltet. Neben strukturellen Reformen in ländlichen Regionen, Förderung der politischen Teilhabe, Entwaffnung der FARC-EP, Bekämpfung des illegalen Drogenhandels sowie Sicherheitsgarantien und Reintegration ehemaliger FARC-Mitglieder in die Gesellschaft, ist das Recht auf Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung sowie die Garantien für Nichtwiederholung ein weiterer zentraler Aspekt des Friedensvertrags.

Integrales System für Vergangenheitsarbeit

Das Recht auf Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung und Garantien der Nicht-Wiederholung – ein wesentlicher Bestandteil des Friedensvertrags – umfasst unter anderem das friedliche Zusammenleben durch Versöhnung und Vergangenheitsarbeit. Das durch das Friedensabkommen von 2016 geschaffene umfassende System für Wahrheit, Gerechtigkeit, Wiedergutmachung und Nicht-Wiederholdung besteht aus drei Institutionen: der Wahrheitskommission, der Sonderjustiz für Frieden (JEP) und der Einheit für die Suche von Vermissten Personen (UBPD). Diese drei Institutionen bilden das sogenannte «Sistema Integral»

Wahrheit – Aufklärung – Anerkennung

Die Wahrheitskommission hatte das Ziel aufzuklären, was in dem jahrzehntelangen bewaffneten Konflikt geschehen ist. Die Vergangenheitsarbeit trägt zur Anerkennung des Leids bei. Insgesamt wurden 29'000 Überlebende interviewt, sowohl im In- als auch im Ausland. 

Die Abteilung Frieden und Menschenrechte des EDA unterstützte diesen Prozess mit ihrer strategischen und technischen Expertise. Sie trug zur Stärkung der Vertrauensbildung in verschiedenen kritischen gesellschaftlichen Bereichen bei und förderte die Einbindung der Opfer sowohl im Exil als auch in den konfliktbetroffenen Regionen. Darüber hinaus setzt sie sich für eine Umsetzung der Empfehlungen der Wahrheitskommission zur Nicht-Wiederholung ein und trug aktiv zur Aufbereitung des Archivs bei. 

Wahrheitskommissionen

Wahrheitskommissionen sind ein vergleichsweises junges Instrument zur Aufarbeitung der Verletzung der Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts. Die Idee entstand in Südamerika, wo zahlreiche Militärdiktaturen bis in die 1990er-Jahre herrschten. Ziel war es, Verbrechen offenzulegen, die Vergangenheit gemeinsam aufzuarbeiten und durch Dialog zwischen früheren Gegnern eine dauerhafte politische Spaltung zu verhindern.

Eric Mayoraz, Schweizer Botschafter in Kolumbien, und Olga Lucía Arenas, stellvertretende Aussenministerin Kolumbiens, unterzeichneten das Dokument.
Unterzeichnung der Urkunde zur symbolischen Übergabe der digitalen Sicherheitskopie des Dokumentenbestands der Wahrheitskommission. Eric Mayoraz, Schweizer Botschafter in Kolumbien, und Olga Lucía Arenas, stellvertretende Aussenministerin Kolumbiens, unterzeichneten das Dokument. © Cancilleria Colombia

Fragen an Leyner Palacios, ehemaliges Mitglied der kolumbianischen Wahrheitskommission

Leyner Palacios war Mitglied der kolumbianischen Wahrheitskommission, die zwischen 2018 und 2022 die Ursachen des Konflikts analysierte, den unterschiedlichen Stimmen der Gesellschaft Gehör verschaffte und Empfehlungen an Staat und Zivilgesellschaft verfasste, um zukünftige Gewalteskalationen zu verhindern. Im Interview berichtet Palacios über methodische Ansätze der Wahrheitskommission, die Bedeutung des Archivs und seine Wünsche für die Zukunft Kolumbiens.

Wenn Sie heute auf die Arbeit der Kommission zurückschauen: Was würden Sie als die wichtigsten Errungenschaften oder Erkenntnisse ansehen?

Alle Erkenntnisse sind enorm wichtig. Sie hängen zusammen. Eine sehr zentrale Erkenntnis ist das Problem der Sicherheit. Mehr als 10 Millionen Opfer, über 60 Jahre bewaffneter Konflikt, mehr als 16'000 zwangsrekrutierte Kinder, über 4000 Massaker und rund 800'000 Tote zeigen das Versagen des kolumbianischen Sicherheitssystems.  Ein weiterer Befund: das «verwundete Kolumbien». Jede ermordete Person hinterliess eine Familie. Das Leid durch Verluste, Vertreibung und psychische Schäden hat sich in der ganzen Gesellschaft niedergeschlagen. Mehr als 80 Prozent der Bevölkerung waren direkt oder indirekt betroffen.

Als wichtigste Errungenschaft würde ich die Instrumente nennen, welche die Kommission entwickelte, um die Ängste der Bevölkerung über das Erlebte zu sprechen, zu überwinden und dadurch die Erstellung eines Berichts ermöglichte. Besonders schätze ich, dass die Kommission im Verlauf des Prozesses bedeutende methodische Entscheidungen getroffen hat, zum Beispiel der differenzierte Ansatz.

So hat die Kommission beschlossen, dass der Bericht ein ethnisches Kapitel enthalten müsse, dass die Auswirkungen des bewaffneten Konflikts auf die verschiedenen ethnischen Bevölkerungsgruppen beschreibt. Das ist ein sehr wichtiger Schritt, weil es die ethnische und kulturelle Vielfalt des Landes anerkennt.  

Welche Impulse geben die Erkenntnisse der Kommission für den weiteren Prozess von Wahrheit, Gerechtigkeit und Versöhnung?

Die Kommission hat auch Empfehlungen für die Zukunft formuliert. Empfehlungen, die tiefgreifende Veränderungen in der Gesellschaft verlangen. Damit bleibt der Bericht nicht in der schmerzhaften Vergangenheit stecken, sondern zeigt Perspektiven für die Zukunft auf.

Zudem ist der Bericht eine wichtige Referenz zur Stärkung des Systems der Übergangsjustiz, beispielsweise bei der Suche nach vermissten Personen. Und auch wenn der Bericht nicht dazu dienen kann, Verantwortlichkeiten zuzuweisen, kann er nützlich sein, um die juristische Wahrheit zu rekonstruieren und zu erweitern. 

Die Wahrheitskommission hinterlässt Kolumbien das grösste Menschenrechtsarchiv des Landes. Auf Anfrage von Kolumbien bewahrt die Schweiz eine digitale Sicherheitskopie im Bundesarchiv auf. Was ist die Bedeutung dieses Archivs? 

Es ist ein Archiv der Erinnerung, der Verletzungen der Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts. Es handelt sich um ein Archiv von einzigartiger Bedeutung, da es nicht nur institutionelle Informationen enthält, sondern auch die Sichtweise von zivilgesellschaftlichen Organisationen und Opfern, von insgesamt mehr als 29`000 Menschen. Über 14'000 Interviews, tausende Stunden Aufnahmen, sowie Dokumente und Fotos von den 1960er-Jahren bis 2016. 

Es handelt sich um eine riesige Sammlung von Aufzeichnungen der schlimmsten Gräueltaten, die es in dem bewaffneten Konflikt gegeben hat, aber es sind auch Aufzeichnungen des Widerstands mit denen die Gesellschaft dieser Tragödie begegnet ist. Das Dokument ist eine Sammlung von Informationen, die für die zukünftige Generation aufbewahrt werden müssen. Künftige Generationen verfügen nun über sehr wichtige und wertvolle Werkzeuge, um zu verstehen, was passiert ist und warum uns das passiert ist. 

Francisco Flores, Eric Mayoraz, Olga Lucía Arenas und Alejandro Ramelli bei einer Pressekonferenz.
Von links nach rechts: Francisco Flores, Direktor des Nationalarchivs, Eric Mayoraz, Schweizer Botschafter in Kolumbien, Olga Lucía Arenas, stellvertretende Aussenministerin Kolumbiens und Alejandro Ramelli, Richter und Präsident der Sondergerichtsbarkeit für den Frieden. © Cancilleria Colombia

Welche Rolle spielt die Aufbewahrung einer digitalen Sicherheitskopie in der Schweiz? 

Mit dieser Kopie ist garantiert, dass die Wahrheit nicht gelöscht wird, weder durch Cyberangriffe noch durch politischen Wandel. Das ist eine Garantie für die Opfer und für die Zukunft. 

Da Kolumbien ein Land im Wandel ist, halte ich es für sehr wichtig, eine solche digitale Sicherheitskopie der Archive der kolumbianischen Wahrheitskommission zu haben, um möglichen politischen Schwankungen entgegenzuwirken. 

Wie schätzen Sie die Rolle der internationalen Gemeinschaft im Friedensaufbau in Kolumbien ein?

Ohne die internationale Gemeinschaft hätte es das Friedensabkommen 2016 nicht gegeben. Sie unterstützte Kolumbien politisch, technisch, finanziell. Auch bei der Wahrheitskommission begleiteten sie uns, reisten mit uns in die Regionen, gaben technische Unterstützung.

Die Schweiz spielte dabei eine besonders wichtige Rolle – oft diskret, aber entscheidend. Etwa bei vertraulichen Dialogen, bei der Begleitung von Opfern oder als Vermittlerin.

Wie wichtig ist es für Wahrheitskommissionen generell, einen internationalen Partner wie die Schweiz zu haben?

Sehr wichtig. Erstens gab es uns Legitimität, gerade gegenüber einer kritischen Öffentlichkeit. Die kontinuierliche Unterstützung der internationalen Gemeinschaft verlieh uns die nötige Glaubwürdigkeit, die sowohl für die Gesellschaft als auch international von grosser Bedeutung war. Eine Partnerin wie die Schweiz an unserer Seite zu haben, stellte zudem sicher, dass die Opfer teilnahmen.

Was wünschen Sie sich für Kolumbiens Zukunft?

Ich hoffe, Kolumbien versteht, dass das Leben heilig ist. Dass Kinder leben dürfen. Dass Frauen nicht weiter ihre Männer begraben müssen. Ich wünsche mir eine gestärkte Demokratie, die Gewalt überwindet.

Kolumbien ist auch ein Land der Hoffnung. Trotz allem zeigt der Bericht, dass wir fähig sind, unser Leid zu benennen und Wege zur Versöhnung und zum Frieden zu suchen. Das ist bedeutsam.

Vergangenheitsarbeit

Das Recht auf Wahrheit ist eines der vier Joinet-Prinzipien. Diese gehen auf die Grundsätze von Louis Joinet zurück, die er für die damalige UNO-Menschenrechtskommission verfasst hat. Die Prinzipien anerkennen die Rechte der Opfer und legen die Pflichten des Staates fest.  Das Recht auf Wahrheit beinhaltet sowohl das individuelle Recht der Opfer und ihrer Familien als auch das kollektive Recht der Gesellschaft auf Aufklärung über die Geschehnisse und Menschenrechtsverletzungen. Ziel ist es Widerholungstaten zu verhindern und eine gesellschaftliche Versöhnung zu ermöglichen.

Nachhaltiger Friedensprozess

Die Schweiz wurde von der kolumbianischen Regierung gebeten, eine digitale Sicherheitskopie der Archive der kolumbianischen Wahrheitskommission aufzubewahren. Diese Archive enthalten Informationen über Menschenrechtsverletzungen sowie Zeugenaussagen. Im Jahr 2023 wurde hierfür ein internationales Abkommen zwischen der Schweiz und Kolumbien unterzeichnet, dass die Aufbewahrung der digitalen Sicherheitskopie in der Schweiz festlegt. 

Abschlussbericht der Wahrheitskommission

Die Wahrheitskommission stellte den Abschlussbericht am 28. Juni 2022 in Bogota vor. Der Bericht umfasst zehn Kapitel, die schwerste Menschenrechtsverletzungen wie Vertreibung, Folter, Mord und Entführungen beschreiben. Zudem erarbeitete die Kommission zahlreiche Empfehlungen aus, darunter eine neue Strategie zur Drogenbekämpfung, Agrarreformen und die Einrichtung eines Ministeriums für Frieden und Versöhnung.

Die Förderung eines friedlichen gesellschaftlichen Zusammenlebens durch Versöhnung und Vergangenheitsarbeit ist eines der drei Ziele der Schweizer Friedenpolitik in Kolumbien. Seit 25 Jahren setzt sich die Schweiz für einen nachhaltigen Frieden in Kolumbien ein. Sie unterstützt die Umsetzung des Friedensabkommens von 2016 sowie - im Rahmen offizieller Mandate -mehrere laufende Friedensverhandlungen zwischen der kolumbianischen Regierung und bewaffneten Gruppen. Zudem fördert sie die politische Partizipation der Bevölkerung, um die Demokratie zu stärken. Für die Umsetzung der Schweizer Friedenspolitik ist die Abteilung Frieden und Menschenrechte des EDA zuständig. Diese erfolgt im Rahmen des gemeinsamen Kooperationsprogramms 2025-2028 mit der Humanitären Hilfe der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) und dem Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO). 

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